BGH,
Urt. v. 6.6.2002 - 1 StR 14/02
1 StR 14/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
6. Juni 2002
in der Strafsache gegen
,
wegen sexuellen Mißbrauchs von Kindern u.a.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 6.
Juni 2002, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Schäfer und die Richter am
Bundesgerichtshof Dr. Wahl, Dr. Boetticher, Schluckebier, Hebenstreit,
Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger,
Rechtsanwältin als Vertreterin der Nebenklägerin,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts
Mannheim vom 21. September 2001 wird als unbegründet verworfen.
2. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels und die der
Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen
Auslagen zu tragen.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs von Schutzbefohlenen in zwei Fällen, in
einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch von Kindern,
und wegen Körperverletzung in drei Fällen zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Nach den Feststellungen des Landgerichts mißbrauchte der
Angeklagte seine 1985 geborene Stieftochter 1995 oder 1996 sowie am 25.
März 2001 sexuell. Ferner schlug und trat er sie im Dezember
2000, im Februar 2001 und am 25. März 2001 mit der Hand und
einmal mit den Füßen. Bei allen Taten war der
Angeklagte durch den vorangegangenen Genuß alkoholischer
Getränke leicht enthemmt. Jedoch war seine Einsichts- oder
Steuerungsfähigkeit bei keiner der Taten erheblich vermindert.
Mit seiner Revision wendet sich der Angeklagte gegen den
Rechtsfolgenausspruch. Mit einer Verfahrensrüge und der
Sachrüge greift er insbesondere die Feststellung nicht
erheblich verminderter Schuldfähigkeit an. Die Revision des
Angeklagten bleibt ohne Erfolg.
II.
Die Revision ist - von vorneherein - wirksam auf den Strafausspruch
beschränkt. Dies ergibt die Auslegung der
Revisionsrechtfertigung. Sie hat das erklärte Ziel, den Weg
zur Verurteilung zu einer geringeren Freiheitsstrafe zu
eröffnen, zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur
Bewährung ausgesetzt werden kann.
III.
1. Mit der Verfahrensrüge wendet sich der Angeklagte gegen die
Ablehnung seines Antrags auf Einholung eines
"psychologischenpsychiatrischensuchtmedizinischen
Sachverständigengutachtens" durch das Landgericht.
Die Rüge ist zulässig. Die
Revisionsbegründung genügt noch den Anforderungen des
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Zwar vermag die Nennung der
Fundstellen des Beweisantrags und des Ablehnungsbeschlusses in den
Akten deren inhaltliche Wiedergabe in der
Revisionsrechtfertigungsschrift grundsätzlich nicht zu
ersetzen (vgl. LR-Hanack StPO 25. Aufl. § 344 Rdn. 83;
KK-Kuckein StPO 4. Aufl. § 344 Rdn. 39;
Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 45. Aufl. § 344 Rdn.
21; jeweils m.w.N.; differenzierend: Kutzer, StraFo 2000, 326 [327]).
Der Beschwerdeführer teilt daneben aber noch mit,
daß zur Auswirkung des Alkohol- bzw. Tablettenkonsums des
Angeklagten auf dessen Schuldfähigkeit bereits zwei
rechtsmedizinische Sachverständige gehört wurden, die
eine wesentliche - alkohol- oder medikamentenbedingte - Verminderung
des Einsichts- oder Steuerungsvermögens des Angeklagten zu den
Tatzeiten verneinten, daß der Angeklagte die Beauftragung
eines weiteren - psychiatrischen - Sachverständigen hierzu
beantragt hatte, die Strafkammer dies aber unter Hinweis auf ihre
eigene Sachkunde abgelehnt hat. Dies genügt hier, um den Senat
in die Lage zu versetzen, allein anhand der
Revisionsbegründung und der Urteilsgründe zu
überprüfen, ob der behauptete
Verfahrensverstoß gegeben ist.
Weiterer Vortrag in der Revisionsbegründung wäre
allerdings dann erforderlich gewesen, wenn Grundlage des beantragten
Sachverständigengutachtens nicht nur der Alkohol- und
Tablettenkonsum des Angeklagten hätte sein sollen, sondern
etwa Auffälligkeiten in der
Persönlichkeitsentwicklung des Angeklagten. Diese
hätten dann genannt werden müssen.
Die Verfahrensrüge ist jedoch unbegründet. Die
Strafkammer hat den Beweisantrag rechtsfehlerfrei unter Berufung auf
ihre eigene Sachkunde zurückgewiesen (§ 244 Abs. 4
Satz 1 StPO). Diese wird in den Urteilsgründen
überzeugend nachgewiesen. Die Strafkammer durfte dabei auch
auf die ihr in der Hauptverhandlung durch die Ausführungen der
bereits gehörten Sachverständigen vermittelten
Erkenntnisse zurückgreifen (vgl. G. Schäfer, Die
Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. Rdn. 1193 m.w.N.).
2. Auch mit der Sachrüge bleibt die Revision ohne Erfolg.
a) Rechtsfehlerfrei hat die Strafkammer festgestellt, daß die
Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten in keinem
der Fälle alkoholbedingt oder in Folge der Einnahme von
Tabletten (Diazepam) erheblich vermindert war.
aa) Der Angeklagte nimmt regelmäßig große
Alkoholmengen zu sich. Er ist "hochgradig alkoholgewöhnt".
Nach Alkoholkonsum wird er zuweilen aggressiv. Eine süchtige
Einengung auf den Konsum von Alkohol liegt jedoch nicht vor. Seine
Lebens- und Freizeitgestaltung ist nicht beeinträchtigt. Mit
Rücksicht auf seinen Beruf als Fernfahrer, den er seit
fünfzehn Jahren beanstandungsfrei ausübt, trinkt der
Angeklagte in der Regel nur an Wochenenden, soweit familiäre
Unternehmungen nicht entgegenstehen. Erinnerungslücken infolge
von Trunkenheit hatte der Angeklagten noch nie. Alkoholbedingte
Entzugserscheinungen konnten bei einer einmonatigen
stationären Behandlung des Angeklagten ab Ende Mai 1995 nach
einem Suizidversuch nicht festgestellt werden.
Konkrete Anhaltspunkte zum Grad der Alkoholisierung des Angeklagten bei
den Taten gibt es nur hinsichtlich der Vorfälle am 25.
März 2001. Eine am nächsten Tag um 02.10 Uhr
entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,91 %o.
Davon ausgehend ergibt sich eine maximale Blutalkoholkonzentration von
3,54 %o bei der Körperverletzung - Tatzeit zwischen 19.00 Uhr
und 19.23 Uhr - und von 3,41 %o bei der sexuellen Nötigung
(Tatzeit zwischen 19.40 Uhr und 20.00 Uhr). Ein um 20.45 Uhr
vorgenommener Atemtest ergab eine Alkoholkonzentration von 2,48 %o.
Ausfallerscheinungen waren bei dem Angeklagten weder zum Zeitpunkt
seiner Festnahme um 20.00 Uhr noch bei der ärztlichen
Prüfung seiner Leistungsfähigkeit im Zusammenhang mit
der Blutentnahme um 02.10 Uhr erkennbar.
Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen nahm der
Angeklagte aufgrund ärztlicher Verordnung ab Mai 1994
ungefähr ein Jahr lang täglich lediglich eine
Tablette Diazepam ein und nicht fünf bis sieben, wie sich der
Angeklagte in der Hauptverhandlung entgegen seinen Angaben
gegenüber dem ihn 1995 behandelnden Arzt einließ.
Die Beendigung dieses Tablettenkonsums hatte zu Beginn seiner
stationären Behandlung nach einem Suizidversuch ab Ende Mai
1995 nur eine leichte Entzugssymptomatik zur Folge.
bb) Auf dieser Grundlage ist die selbst sachkundige und zudem
sachverständig beratene Strafkammer aufgrund
sorgfältiger Erwägungen unter Darstellung der
maßgeblichen Anknüpfungstatsachen zu der
Überzeugung gekommen, daß weder der
Alkoholmißbrauch des Angeklagten noch (hinsichtlich der
ersten Tat) die regelmäßige Einnahme von Diazepam -
auch nicht im Zusammenwirken mit Alkohol - eine schwere
Persönlichkeitsveränderung im Sinne einer
suchtbedingten und suchttypischen Depravation des Angeklagten zur Folge
hatte und er zu den Tatzeiten auch nicht infolge einer akuten Alkohol-
und/oder Medikamentenintoxikation an einer krankhaften seelischen
Störung litt.
Dies ist auch hinsichtlich der Taten am 25. März 2001 von
Rechts wegen nicht zu beanstanden. Die Blutalkoholkonzentration des
Angeklagten lag zum Zeitpunkt der ersten der beiden Taten am 25.
März 2001 im Bereich von 2,5 %o bis 3,54 %o. Die Strafkammer
hat nicht verkannt, daß eine Blutalkoholkonzentration in der
hier nach Rückrechnung nicht ausschließbaren
Höhe "zwar an sich geeignet ist, eine forensisch relevante
Intoxikation zu indizieren". Allerdings verliert - worauf die
Strafkammer zu Recht hinweist - der errechnete maximale Blutalkoholwert
infolge des langen Rückrechnungszeitraums an indizieller
Bedeutung für die Beurteilung der Schuldfähigkeit
(vgl. BGH NStZ 1998, 457 [458]), zumal hier die - ebenfalls indizielle
- tatnahe Atemluftmessung eher auf eine Blutalkoholkonzentration zur
Tatzeit an der unteren Grenze der Bandbreite der möglichen
Werte schließen läßt.
Vor allem aber gibt es keinen gesicherten medizinischstatistischen
Erfahrungssatz darüber, daß ohne Rücksicht
auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer
bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit in aller Regel vom
Vorliegen einer alkoholbedingt erheblich verminderten
Steuerungsfähigkeit auszugehen ist. Denn eine durch den
Blutalkoholgehalt angezeigte, wirksam in den Blutkreislauf aufgenommene
Alkoholmenge wirkt nach medizinischer Erfahrung auf jeden Menschen
unterschiedlich (BGHSt 43, 66 [71 f.]; vgl. auch BGH NStZ 1998, 458).
Das Landgericht stellte rechtsfehlerfrei fest, daß das
körperliche und geistige Leistungsvermögen des in
hohem Maße alkoholgewohnten Angeklagten kurz nach der Tat und
auch zum Zeitpunkt der Entnahme der Blutprobe - bei dann einer
Blutalkoholkonzentration von 1,91 %o - nicht wesentlich
beeinträchtigt war. Dabei hat die Strafkammer - bei Darlegung
der Befundtatsachen - nicht nur auf das kontrollierte und
äußerlich geordnete Verhalten des Angeklagten
abgestellt, sondern insbesondere auch auf dessen klares
Bewußtsein, seine sofortigen adäquaten Reaktionen
auf Fragen und Handlungen anderer, den geordneten Denkablauf, seine
ruhige Stimmung und sein normales Befinden. Wenn die Strafkammer vor
diesem Hintergrund eine erhebliche Verminderung der Einsichts- oder der
Steuerungsfähigkeit auch bei Begehung der Taten am 25.
März 2001 ausgeschlossen hat, ist dies aus
Rechtsgründen nicht zu beanstanden.
b) Daß sich der Angeklagte das Ermittlungs- und
Strafverfahren wegen des Vorwurfs der sexuellen Nötigung zum
Nachteil der Darlene Neu am 14. Februar 1998 hinsichtlich der Tat
(sexuelle Nötigung) am 25. März 2001 nicht zur
Warnung dienen ließ, durfte die Strafkammer
berücksichtigen, auch wenn jenes Verfahren am 4. Januar 2001
mit einem Freispruch endete (vgl. BGHSt 25, 64; G. Schäfer,
Praxis der Strafzumessung, 3. Aufl. Rdn. 367).
c) Auch im übrigen ergab die Überprüfung des
Urteils aufgrund der Sachrüge keinen Rechtsfehler zum Nachteil
des Angeklagten.
Schäfer Wahl Boetticher Schluckebier Hebenstreit
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