BGH,
Urt. v. 6.3.2003 - 4 StR 484/02
4 StR 484/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
Urteil
vom
6. März 2003
in der Strafsache gegen
wegen Verdachts des Totschlags
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 6.
März 2003, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Tepperwien, Richter am Bundesgerichtshof Maatz,
Dr. Kuckein, Richterin am Bundesgerichtshof Solin-Stojanovic, Richter
am Bundesgerichtshof Dr. Ernemann als beisitzende Richter, Staatsanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt als Verteidiger,
Justizamtsinspektorin als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
1.
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Paderborn vom 26. Juni 2002 mit den Feststellungen
aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf des in der
Neujahrsnacht 2002 zum Nachteil des Ahmed S. begangenen Totschlags
freigesprochen, weil die Tat durch Notwehr (§ 32 StGB)
gerechtfertigt sei. Ferner hat es dem Angeklagten eine
Entschädigung für den in dieser Sache erlittenen
Freiheitsentzug zugesprochen. Gegen dieses Urteil wendet sich die
Staatsanwaltschaft mit ihrer Revision, mit der sie eine Verurteilung
des Angeklagten wegen Totschlags erstrebt; zugleich erhebt die
Beschwerdeführerin die sofortige Beschwerde gegen den
Ausspruch über die Entschädigung des Angeklagten. Die
Revision hat bereits mit der Sachrüge Erfolg. Mit der
Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das
Landgericht ist die sofortige Beschwerde gegen den
Entschädigungsausspruch gegenstandslos.
I.
1. Nach den Feststellungen kam es in der Neujahrsnacht 2002 zwischen
dem Angeklagten und Ahmed S. zu einer tätlichen
Auseinandersetzung, die seitens des Angeklagten zunächst mit
Fäusten geführt wurde. Ahmed S. , das
spätere Tatopfer, ging seinerseits mit einem ca. 80 cm langen
Gegenstand, bei dem es sich möglicherweise um eine Wasserwaage
handelte, auf den Angeklagten los und schlug ihn damit. "Um sich des
Angriffs durch Ahmed S. zu erwehren", stach der Angeklagte
schließlich mit einem Butterflymesser insgesamt achtmal auf
den Geschädigten ein. Fünf der Stiche trafen den
Geschädigten im Rücken, drei Stiche von vorn bzw. von
der Seite. Einer der seitlichen Stiche drang in den Bauchraum ein und
perforierte dort die Körperhauptschlagader und den Darm. Diese
Verletzung führte zum alsbaldigen Tod des
Geschädigten durch Verbluten. Ein weiterer Stich traf den
15jährigen Neffen des Getöteten, Erol Su. , am
Oberschenkel. Dieser hielt sich in unmittelbarer Nähe auf und
hatte zuvor versucht, seinen Onkel von dem Angeklagten wegzuziehen.
Dem Tatgeschehen vorausgegangen war der Versuch des Angeklagten, in
Begleitung seines Vaters seine vormalige Freundin Sabahat S. zu
bewegen, mit ihm zu der Neujahrsfeier seiner Eltern zu kommen, nachdem
die junge Frau ihm zuvor erklärt hatte, sich von ihm zu
trennen. Anstelle von Sabahat S. kam deren Stiefmutter an die
Wohnungstür und wies das Ansinnen des Angeklagten
zurück. Darauf kam es zu einer heftigen verbalen
Auseinandersetzung, in deren Verlauf der Vater des Angeklagten die
Wohnungstür eintrat. Nunmehr verließen der
Angeklagte und sein Vater das Haus. Ihnen folgten im Abstand von
mindestens fünf Minuten der Vater der Sabahat S. und der
später Getötete sowie ihr Cousin Erol Su. . Der Vater
der Sabahat S. , Bajram S. , hatte eine Pistole bei sich, die er auf
den Vater des Angeklagten richtete. Letzterer brachte die Pistole aber
an sich und schlug Bajram S. damit auf den Kopf. In dieser Situation
entwickelte sich die tätliche Auseinandersetzung zwischen dem
Angeklagten und dem Tatopfer.
2. Auf der Grundlage dieser Feststellungen hat das Landgericht als
nicht zu widerlegen angenommen, daß sich der Angeklagte mit
Verteidigungswillen durch die Stiche gegen den von dem Tatopfer mit dem
länglichen Gegenstand geführten Angriff zur Wehr
gesetzt und dabei auch die Grenzen der Notwehr nicht
überschritten habe. Zwar meint das Landgericht, daß
"sicherlich nicht acht Stiche mit dem Butterflymesser auf den Angreifer
erforderlich (gewesen seien), um diesen davon abzubringen, mit der
Wasserwaage auf den Angeklagten einzuschlagen" (UA 13). Da jedoch die
Reihenfolge der Stiche nicht näher aufgeklärt werden
konnte, hat das Landgericht zu Gunsten des Angeklagten angenommen,
daß "gleich der erste Stich derjenige war, der die
Körperhauptschlagader getroffen hat" (UA 13).
II.
1. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der
Revisionsrechtfertigung deckt weder zur Beweiswürdigung noch
zur rechtlichen Bewertung einen durchgreifenden Rechtsfehler zu Gunsten
des Angeklagten auf, soweit das Landgericht auf der Grundlage der
bisher getroffenen Feststellungen eine Notwehrrechtfertigung des
tödlichen Messerstichs angenommen hat.
2. Gleichwohl hat das freisprechende Urteil keinen Bestand, weil nach
den bisher getroffenen Feststellungen die Notwehrrechtfertigung nicht
alle acht Stiche erfaßt. Auch wenn die Reihenfolge der Stiche
nicht geklärt werden konnte und deshalb das Landgericht - nach
dem Zweifelsgrundsatz zu Recht - davon ausgegangen ist, daß
bereits der erste Stich den Tod des Geschädigten verursacht
hat, war nicht schon deshalb die Prüfung entbehrlich, ob
(auch) die übrigen Stiche durch Notwehr gerechtfertigt waren.
Indem das Landgericht selbst davon ausgegangen ist, daß
"sicherlich nicht acht Stiche mit dem Butterflymesser auf den Angreifer
erforderlich" waren, hat es eine Notwehrüberschreitung
angenommen, diese jedenfalls aber nicht ausgeschlossen. Auch wenn der
erste Stich gerechtfertigt gewesen sein mochte, kann aber die Berufung
auf das Notwehrrecht für die weiteren Stiche versagen, wenn
der Angriff dadurch bereits abgewehrt war (vgl. BGHR StGB § 32
Abs. 2 Erforderlichkeit 3 und 11 und Angriff 3; BGH NStZ-RR 1999, 40
f.). Deshalb kommt in Bezug auf den nicht gerechtfertigtenTeil der
Handlung eine Strafbarkeit des Angeklagten wegen versuchten Totschlags,
zumindest aber wegen gefährlicher Körperverletzung in
Betracht (vgl. BGH NStZ 1983, 117). Die Sache bedarf schon aus diesem
Grunde insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
III.
Der neue Tatrichter wird Gelegenheit haben, weiter gehende
Feststellungen zur "Kampflage" (vgl. Tröndle/Fischer StGB 51.
Aufl. § 32 Rdn. 16 c m.N.) zu treffen. Das gilt hier zumal
deshalb, weil nach den bisher getroffenen Feststellungen offen bleibt,
aus welcher Position der Angeklagte sich gegen einen Angriff des
Geschädigten mit den Messerstichen in die Seite und den
Rücken des Opfers verteidigt haben will, wenn er - wovon das
Landgericht zu seinen Gunsten ausgeht - von dem betreffenden Gegenstand
an Rücken und Gesäß getroffen wurde. Zudem
dürfen nach der Rechtsprechung lebensgefährliche
Messerstiche, zumal solche in den Brust- und Bauchbereich, solange der
Angreifer nicht seinerseits das Leben des Verteidigers unmittelbar
bedroht, nur als letztes Mittel der Verteidigung eingesetzt werden;
Voraussetzung der Rechtfertigung ist grundsätzlich,
daß schonendere Möglichkeiten der Verteidigung nicht
in gleicher Weise die Gefahr zu beseitigen vermögen (BGHSt 42,
97, 100 m.w.N.).
Im übrigen wird der neue Tatrichter, sollte er wiederum zum
Freispruch gelangen, den - wie die Urteilsgründe ausweisen -
gemäß § 154 Abs. 2 StPO (richtig wohl
gemäß § 154 a Abs. 2 StPO) von der
Verfolgung ausgenommenen Vorwurf der gefährlichen
Körperverletzung zum Nachteil des Erol Su. auch ohne Antrag
der Staatsanwaltschaft wieder in seine rechtliche Prüfung
einzubeziehen haben (st. Rspr.; vgl. BGHSt 32, 84, 85 f.; BGH NStZ
1995, 540, 541; 1996, 241; BGHR StPO § 264 Abs. 1
Ausschöpfung 3; Meyer-Goßner StPO 46. Aufl.
§ 154 a Rdn. 24).
Tepperwien Maatz Kuckein Solin-Stojanovic Ernemann |