BGH,
Urt. v. 6.11.2002 - 5 StR 281/01
5 StR 281/01
StGB §§ 13, 25, 212
Zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Unterlassens von
Mitgliedern des Politbüros des Zentralkomitees der SED
für vorsätzliche Tötungen von
Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR (im
Anschluß an BGHSt 40, 218 und 45, 270).
BGH, Urt. v. 6. November 2002 - 5 StR 281/01 - LG Berlin -
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom 6. November 2002
in der Strafsache gegen
1.
2.
3.
wegen Totschlags
Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 6.
November 2002, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin Harms,
Richter Häger, Richter Basdorf, Richterin Dr. Gerhardt,
Richter Dr. Raum als beisitzende Richter, Bundesanwalt als Vertreter
der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt He als Verteidiger des Angeklagten
H , Rechtsanwalt A als Verteidiger des Angeklagten B , Rechtsanwalt W
als Verteidiger des Angeklagten L , Rechtsanwalt P als Vertreter der
Nebenklägerin, Justizangestellte als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der
Nebenklägerin wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.
Juli 2000 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer
des Landgerichts zurückverwiesen.
- Von Rechts wegen -
Gründe:
Gegenstand des Verfahrens ist die Tötung von vier Menschen,
die zwischen 1984 und 1989 unbewaffnet und ohne Gefährdung
anderer versuchten, die DDR über die damalige Grenze nach
Berlin (West) zu verlassen.
Die Anklage wirft den Angeklagten folgendes vor: Sie hätten
während ihrer jeweiligen Mitgliedschaft im Politbüro
des Zentralkomitees der SED der DDR einen Totschlag durch Unterlassen
begangen. Dabei werden den Angeklagten B und L die Tötungen
der Flüchtlinge Bi , S und G (Fälle 2 bis 4) zur Last
gelegt. Dem Angeklagten H wird jedenfalls die Tötung des
Flüchtlings M Sch (Fall 1) vorgeworfen. Die Frage, ob der
Anklagevorwurf gegen diesen Angeklagten auch die Tötung der
drei Flüchtlinge Bi , S und G - insbesondere begangen durch
eine Mitwirkung am Beschluß des Politbüros vom 11.
Juni 1985 - umfaßt, wird vom Landgericht und der
Staatsanwaltschaft unterschiedlich beurteilt.
Das Landgericht hat die Angeklagten aus Rechtsgründen
freigesprochen. Es hat im wesentlichen folgendes festgestellt:
Der Angeklagte H war Mitglied des Politbüros des
Zentralkomitees der SED vom 24. Mai 1984 bis zum 22. November 1985. Er
hatte zahlreiche Kontakte in die Bundesrepublik Deutschland und
unternahm "kleine Schritte", um "in Fragen der Grenze und der
Freizügigkeit eine Änderung zum Besseren
herbeizuführen". Auch nach seiner Wahl zum Mitglied des
Politbüros war er "bestrebt, unter Ausnutzung seiner guten
Kontakte durch realistische Schritte und Verbesserungen mit
Langzeitwirkung konkrete Erfolge zu erreichen ... Diese seine
Bemühungen scheiterten jedoch bereits am 17. August 1984, als
der Generalsekretär Erich Honecker auf einer Geheimsitzung in
Moskau der sowjetischen Führung die Gründe
für seine geplante Reise in die Bundesrepublik Deutschland und
in diesem Zusammenhang die von dem Angeklagten H vorformulierten
Überlegungen und Vorstellungen zu einem verbesserten
Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland im
humanitären Bereich vortrug und auf strikte Ablehnung seitens
der Sowjetunion stieß." Die Angeklagten B und L waren
Mitglieder des Politbüros vom 21. April 1986 bis November 1989.
Der Flüchtling Sch wurde am 1. Dezember 1984 beim
Überklettern der Berliner Mauer durch Schüsse der
Grenzsoldaten der DDR getroffen und verblutete. Am 24. November 1986
wurde Bi bei dem Versuch, die Grenzsperranlagen zu überwinden,
von Schüssen der Grenzposten der DDR tödlich
getroffen. Am 12. Februar 1987 wurde S bei dem Versuch, die Berliner
Mauer zu überwinden, von Grenzposten der DDR erschossen. Am 5.
Februar 1989 wurde G bei dem Versuch, die Grenzsperranlagen zu
überwinden, durch Grenzposten der DDR beschossen; er erlag
einem Brustdurchschuß.
Einen aktiven Beitrag der Angeklagten zu diesen Tötungen hat
das Landgericht nicht festgestellt.
Das Landgericht hat die Freisprüche im wesentlichen mit
folgendem begründet: Die Angeklagten hätten sich nach
dem Strafrecht der DDR nicht strafbar gemacht. Zwar habe ihnen eine
Pflicht zur Abwendung der Todeserfolge im Sinne des § 9
StGB-DDR oblegen. Dies ergebe sich aus einer Gesamtschau der Regelungen
in Art. 1 und Art. 30 Abs. 2 der Verfassung der DDR von 1968 und in
Art. 6 und 12 des Internationalen Paktes über
bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl
1973 II 1534 - IPbürgR -). Wenn den Angeklagten auch -
angesichts begrenzter Entscheidungsfreiheit der DDR innerhalb des
Warschauer Paktes - nicht der Vorwurf zu machen sei, nicht auf einen
gänzlichen Abbau der Sperranlagen hingewirkt zu haben, so
hätten sie doch die Pflicht gehabt, auf eine "Humanisierung"
des Grenzsystems, namentlich auf eine Einhaltung der Gesetze der DDR,
insbesondere des Grenzgesetzes der DDR hinzuwirken. Solches sei ihnen
auch zumutbar gewesen. Jedoch fehle es an der Kausalität
zwischen Handlungsbeitrag und Erfolg, die nach dem Strafrecht der DDR
"eindeutig bewiesen" sein müsse.
Die Staatsanwaltschaft wendet sich mit ihren Revisionen gegen die
Freisprüche der drei Angeklagten. Die Nebenklägerin,
Mutter des Getöteten Bi , greift mit ihren Revisionen die
Freisprüche der Angeklagten B und L an. Die Rechtsmittel haben
jeweils mit der Sachrüge Erfolg. Auf die erhobenen
Verfahrensrügen kommt es daher nicht an.
A.
Die den Freisprüchen zugrundeliegende Ansicht des
Landgerichts, die Angeklagten hätten sich durch das ihnen zur
Last gelegte Unterlassen nicht strafbar gemacht, weil es nach dem Recht
der DDR an der Kausalität zwischen ihrem jeweiligen Verhalten
und den eingetretenen Todeserfolgen mangele, hält
sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand.
Auszugehen ist von der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, wonach
für die Tötungen von Flüchtlingen an der
innerdeutschen Grenze nicht nur die Schützen, die jeweils die
tödlichen Schüsse abgegeben haben, und die
militärischen Vorgesetzten der Schützen, sondern auch
diejenigen Personen strafrechtlich verantwortlich sein können,
die politische Verantwortung für das Grenzregime der DDR
trugen (vgl. dazu die Dokumentationen bei Laufhütte in
Festschrift zum 50jährigen Bestehen des Bundesgerichtshofes,
2000, S. 409, 418 ff. und Willnow JR 1997, 221, 224 ff.; Marxen/Werle,
Strafjustiz und DDR-Unrecht Bd. 2 - zwei Teilbände -
Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze 2002). Allen in diesem
Zusammenhang ergangenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes ist
jedoch gemein, daß sie ein aktives Tun der jeweiligen
Beteiligten zum Gegenstand haben. Dagegen geht es im vorliegenden
Verfahren um die Frage, ob die Angeklagten wegen bloßen
Unterlassens für die Tötung von Flüchtlingen
an der innerdeutschen Grenze strafrechtlich verantwortlich sein
können. Diese Frage ist zu bejahen.
Auf der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen haben
die Angeklagten sich strafbar gemacht. Sie haben nach dem Recht der DDR
durch Unterlassen eine Beihilfe zum Mord (§ 112 Abs. 1,
§ 22 Abs. 2 Nr. 3, § 9 StGB-DDR) und nach dem Recht
der Bundesrepublik Deutschland einen Totschlag durch Unterlassen in
mittelbarer Täterschaft (§§ 212, 13, 25 Abs.
1 StGB) begangen.
I.
Nach dem Recht der DDR gilt folgendes:
1. Die jeweiligen Schützen haben sich wegen Mordes nach
§ 112 Abs. 1 StGB-DDR strafbar gemacht (vgl. zu den hier
vorliegenden Tötungsfällen BGHSt 39, 1 und 168; BGH,
Beschl. vom 1. November 1995 - 5 StR 527/95; ferner BGHSt 40, 218, 231;
45, 270, 295). Zu den Taten dieser Täter führt eine
ununterbrochene Verantwortlichkeitskette, ausgehend von den
Trägern grundsätzlicher politischer Entscheidungen,
vom Politbüro über den Nationalen Verteidigungsrat,
das Ministerium für Nationale Verteidigung und die
militärische Hierarchie der Grenztruppen der DDR. Diese Kette
stellt sich in der Bewertung nach dem Strafrecht der DDR
folgendermaßen dar: Die Mitglieder des Politbüros
begingen mit ihrer Zustimmung zu entsprechenden Beschlüssen
dieses Gremiums eine Anstiftung zum Mord (BGHSt 45, 270, 295). Ebenso
begingen die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates mit ihrer
Beteiligung an dessen Beschlüssen eine Anstiftung zum Mord
(BGHSt 40, 218, 228, 231 f.; BGHSt 45, 270, 286 ff.). In Verfahren
gegen die Generäle der Grenztruppen der DDR, deren Mitwirkung
an Jahresbefehlen jeweils zu den hier gegenständlichen
Tötungsfällen führte, hat der
Bundesgerichtshof in Bestätigung der jeweiligen
tatrichterlichen Urteile entschieden, daß die am
Erlaß der Jahresbefehle beteiligten Offiziere wegen
Anstiftung oder - soweit sie lediglich ihren Vorgesetzten zugearbeitet
haben - wegen Beihilfe zum Mord schuldig sind (so BGHSt 44, 204
für die Befehlsebene 101; BGH, Beschl. vom 30. April 1997 - 5
StR 42/97 - und Beschl. vom 4. April 2000 - 5 StR 635/99 - für
die Befehlsebene 80; BGH, Beschl. vom 8. November 1999 - 5 StR 732/98 -
für die Befehlsebenen 40 und 20). Die jeweiligen Vergatterer
der Schützen, deren Tatentschluß bereits durch die
zuvor erfolgte generelle Befehlserteilung geweckt war, haben eine
Beihilfe zum Mord begangen (BGHSt 47, 100; BGH, Beschl. vom 9. Oktober
2001 - 5 StR 375/01; Beschl. vom 23. Oktober 2001 - 5 StR 462/01 - und
Beschl. vom 6. November 2001 - 5 StR 455/01).
2. Die Angeklagten wirkten an der Spitze dieser Verantwortungskette mit
und haben sich damit strafbar gemacht. Die Angeklagten haften zwar
weder aus den Gesichtspunkten der mittelbaren Täterschaft oder
der Mittäterschaft noch wegen Anstiftung zum Mord, wohl aber
wegen Beihilfe zum Mord (dazu unten 3).
a) Mittelbare Täterschaft scheidet aus. § 22 Abs. 1
StGB-DDR definiert als mittelbaren Täter denjenigen, der die
Tat durch einen anderen, der für diese Tat selbst nicht
verantwortlich ist, ausführen läßt (vgl.
Strafrecht der DDR, Kommentar zum StGB 5. Aufl. 1987 - fortan als
"DDR-Kommentar" zitiert - § 22 Anm. 3). Diese Voraussetzungen
sind hier deshalb nicht gegeben, weil die unmittelbar handelnden
Personen selbst verantwortlich sind (vgl. BGHSt 40, 218, 229, 231).
b) Mittäterschaft nach § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR
liegt deshalb nicht vor, weil diese nach Rechtsprechung und Lehre der
DDR voraussetzt, daß jeder der Beteiligten die
Tatbestandsmerkmale unmittelbar selbst verwirklicht (OG NJ 1971, 242;
DDR-Kommentar § 22 Anm. 5; Mühlberger NJ 1973, 287,
288; vgl. BGH aaO).
c) Anstiftung (§ 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR) zu einem
Tötungsdelikt kommt deshalb nicht in Betracht, weil Anstiftung
durch Unterlassen dem Recht der DDR fremd ist (DDR-Kommentar §
22 Anm. 4; Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil, Lehrbuch 2. Aufl. 1978
S. 379). Anstiftung durch Unterlassen wird auch bei Anwendung des
Strafgesetzbuches weitgehend nicht anerkannt (Cramer/Heine in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 26 Rdn.
5; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 56; Roxin in LK 11.
Aufl. § 26 Rdn. 61 ff. je m. w. N.), gehörte mithin
nicht etwa zu den elementaren, auch bei Anwendung und Auslegung des
Strafrechts in der DDR fraglos anerkannten Grundlagen des allgemeinen
Strafrechts.
3. Die Angeklagten haben sich jedoch wegen durch Unterlassen begangener
Beihilfe zum Mord strafbar gemacht. Beihilfe durch Unterlassen ist nach
dem Recht der DDR gegeben, wenn der betreffenden Person eine
Rechtspflicht nach § 9 StGB-DDR obliegt, gegen die strafbare
Handlung des Täters einzuschreiten, und das Verhalten des
Gehilfen die Straftat tatsächlich ermöglicht oder
erleichtert hat (DDR-Kommentar § 22 Anm. 6). Diese
Voraussetzungen sind hier gegeben.
Die Angeklagten leisteten durch ihr Unterlassungsverhalten Beihilfe zu
den Mordtaten der Schützen. Die beschriebene ununterbrochene
Anstiftungskette verbindet die Taten der Schützen mit den
Taten der Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates, so
daß die Beihilfe zu den letztgenannten Taten Beihilfe zu den
Taten der Schützen ist. Wenngleich eine solche
"Kettenteilnahme" - soweit ersichtlich - in Rechtsprechung und
Schrifttum der DDR keine ausdrückliche Erwähnung
findet, ist sie gleichwohl nach dem Recht der DDR möglich.
Dies ergibt sich schon daraus, daß nach der Systematik des
§ 22 StGB-DDR die "begangene Straftat", zu der der Gehilfe im
Sinne des § 22 Abs. 2 Nr. 3 StGB-DDR Hilfe leistet, auch eine
Anstiftung nach § 22 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR sein kann. Zudem
hat sich das Strafrecht der DDR, soweit es nicht besondere neue
Regelungen traf, von den überkommenen elementaren
Grundsätzen der Straftatlehre nicht entfernt. Zu diesen
Grundsätzen zählt die Regel, daß in der
Beihilfe zur Anstiftung eine Beihilfe zur Haupttat liegt (RGSt 14, 318,
320; 59, 396, 397). Hiervon ist der Senat bereits ausgegangen, als er
durch Beschlüsse nach § 349 Abs. 2 StPO die
Verurteilung von Offizieren der Grenztruppen der DDR auch insoweit
bestätigt hat, als diesen Verurteilungen eine Beihilfe zum
Mord nach dem Recht der DDR zugrunde gelegt war (vgl. oben 1).
a) Die Angeklagten hatten als Mitglieder des Politbüros die
Pflicht im Sinne des § 9 StGB-DDR, in diesem Gremium darauf
hinzuwirken, daß die Tötung von Personen unterblieb,
die einzig vorhatten, unbewaffnet aus der DDR oder Berlin-Ost in den
westlichen Teil Deutschlands zu gelangen.
aa) Die nach § 9 StGB-DDR relevante Pflicht zum Handeln kann
sich gemäß der dortigen enumerativen
Aufzählung der möglichen Pflichtenquellen (vgl.
DDR-Kommentar § 9 Anm. 2) namentlich aus dem Gesetz und aus
dem Beruf des Täters ergeben. Soweit die Rechtspflichten des
Täters sich nicht von vornherein aus einer Rechtsnorm oder aus
schriftlichen Unterlagen wie einem Arbeitsvertrag oder einem
Funktionsplan ergeben, ist auf Grund der tatsächlich
ausgeübten Tätigkeit festzustellen, welche
Rechtspflichten im Sinne des § 9 StGB-DDR bestehen;
hierfür kommen auch "ungeschriebene" Pflichten in Betracht
(Wittenbeck/Pompoes NJ 1971, 475, 476). Dabei gelten für eine
derartige Erfolgsabwendungspflicht - in Abgrenzung von den einfachen
strafrechtlichen Handlungspflichten (vgl. dazu Wittenbeck NJ 1971, 201)
- zwei wesentliche Kriterien. Zum einen muß die Pflicht aus
einer besonderen Verantwortung für den Schutz des verletzten
Objektes, die sich aus der gesellschaftlichen Stellung oder aus dem
Beruf ergibt, resultieren. Zum anderen muß die Pflicht direkt
auf die Vermeidung und Abwendung von Schäden und Gefahren
abzielen (Strafrecht der DDR, Lehrbuch 1988 S. 202). Solches kann sich
insbesondere "aus der konkreten gesellschaftlichen Stellung des
Täters" (Wittenbeck/Pompoes aaO S. 477) und aus "rechtlich
relevanten Verantwortungsbeziehungen" ergeben, wofür "die
leitende Stellung und Funktion eines Bürgers" (Strafrecht der
DDR aaO S. 203) an erster Stelle steht. In diesem Sinne hat das Oberste
Gericht der DDR Betriebsleiter und andere leitende Mitarbeiter eines
Betriebes für verantwortlich im Sinne des § 9
StGB-DDR erachtet (OG NJ 1976, 719). Es hat damit seine Rechtsprechung
aus der Zeit vor dem Inkrafttreten des StGB-DDR vom 12. Januar 1968
(GBl. I S. 1) fortgesetzt, wonach Personen in
Führungsverantwortung - wie Betriebsleiter (OGSt 2, 105; 3,
318), Schulleiter (OGSt 9, 216, 220) und selbständige
Unternehmer (OGSt 4, 80; 9, 292) - in gleicher Weise als
Unterlassungstäter verantwortlich gemacht worden waren.
bb) Die Anwendung dieser Grundsätze ergibt, daß die
Angeklagten als Mitglieder des Politbüros des Zentralkomitees
der SED der DDR im Sinne des § 9 StGB-DDR verpflichtet waren,
gegen das praktizierte Grenzregime in der DDR einzuschreiten.
(1) Die Rechtspflicht der Mitglieder des Politbüros zum
gebotenen Handeln folgt zunächst aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und
Art. 30 Abs. 1 und 3 der Verfassung der DDR von 1968 - fortan "VerfDDR"
-, ergänzend aus Art. 6 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 und 2 des
Internationalen Paktes über bürgerliche und
politische Rechte von 1966 und der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte von 1948. Danach war der Schutz des Lebens, der
körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit in der DDR
garantiert.
(a) Dies folgt schon aus dem Verfassungsrecht der DDR. Art. 30 VerfDDR
lautet in seinen Absätzen 1 und 3:
"(1) Die Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers
der Deut-
schen Demokratischen Republik sind unantastbar.
(3) Zum Schutze seiner Freiheit und der Unantastbarkeit seiner
Persönlichkeit hat jeder Bürger den Anspruch auf die
Hilfe
der staatlichen und gesellschaftlichen Organe."
Wenngleich Leben und körperliche Unversehrtheit in dieser
Vorschrift nicht ausdrücklich genannt sind, war doch im
Verfassungsrecht der DDR anerkannt, daß auch diese
Rechtsgüter der Unantastbarkeitsgarantie des Art. 30 Abs. 1
VerfDDR unterfielen. So sagt der Kommentar zur Verfassung der DDR: "Der
Schutz der Persönlichkeit und Freiheit umfaßt nicht
nur den Schutz der körperlichen Unversehrtheit, des Lebens und
der Gesundheit ..." (Verfassung der DDR, Kommentar 1969 Art. 30 Anm. 1;
vgl. auch Brunner, Menschenrechte in der DDR 1989 S. 111, 113; BGHSt
39, 1, 23). Allerdings steht Art. 30 VerfDDR in Kapitel 1 unter der
Überschrift "Grundrechte und Grundpflichten der
Bürger". Diese Grundrechte der Bürger waren zwar
subjektive Rechte und wurden zugleich als Menschenrechte bezeichnet
(Staatsrecht der DDR, Lehrbuch 2. Aufl. 1984 S. 180/181). Dabei wurden
die Begriffe Grundrechte, Bürgerrechte und Menschenrechte
auswechselbar benutzt (Klenner in Klaus/Buhr, Philosophisches
Wörterbuch 12. Aufl. 1976 Bd. 2 S. 779; Kuczynski,
Menschenrechte und Klassenrechte 1978 S. 33; vgl. auch
Marxistischleninistische Staats- und Rechtstheorie 3. Aufl. 1980 S. 413
ff.). Sie wurden jedoch nicht als Abwehrrechte des Bürgers
gegen den Staat verstanden (Haney Staat und Recht 1962, 1063, 1069 f.;
Riege in Poppe u.a., Politische und persönliche Grundrechte in
den Kämpfen unserer Zeit 1984 S. 55). Hintergrund dessen war,
daß nach dem Staatsverständnis der DDR
"gesellschaftliche Erfordernisse", Staatsziele und
Bürgerinteressen deckungsgleich waren (Klenner aaO S. 782;
grundsätzlich dazu Klenner, Studien über die
Grundrechte 1964; Klenner, Marxismus und Menschenrechte 1982; Kuczynski
aaO jeweils passim). Gleichwohl wurde diesen Grundrechten in der
Staatsrechtslehre der DDR im Rahmen einer "wechselseitigen
Verantwortung von Staat und Bürger" (Riege aaO)
ausdrücklich der Charakter einer "Schutzfunktion" zugunsten
der Bürger zugeschrieben (Riege aaO;
Schüßler Deutsche Zeitschrift für
Philosophie 1982, 1200, 1205; ähnlich Verfassung der DDR,
Kommentar aaO; vgl. auch Poppe Staat und Recht 1980, 674, 679; Bradter,
Moral - Motiv - Verhalten 1976 S. 44). Es wurde gar
ausdrücklich formuliert, daß der Staat "den Schutz
der persönlichen Freiheiten der Bürger gegen einen
gesetzwidrigen Eingriff einzelner Staatsorgane,
Staatsfunktionäre und Bürger, wenn notwendig, durch
positives Handeln zu garantieren" habe (Marxistischleninistische
allgemeine Theorie des Staates und des Rechts 1975 Bd. 3 S. 284),
daß der Staat verpflichtet sei, "aktiv gewisse Menschenrechte
zu sichern dadurch, daß er ständig zu ihrem Schutz
eingreift - etwa im Falle des Menschenrechts auf Sicherheit" (Kuczynski
aaO S. 38). Danach sind die Vorschriften des Art. 30 Abs. 1 und 3
VerfDDR als ein im Sinne des § 9 StGB-DDR
pflichtbegründendes Gesetz zu verstehen.
(b) Es treten die Vorschriften der Art. 6 Abs. 1 und Art. 12 Abs. 1 und
2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und
politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (IPbürgR) hinzu. Der
Senat hat in seinem Urteil BGHSt 39, 1, 16 f. ausgeführt,
daß dieser Pakt die DDR völkerrechtlich band, obwohl
die DDR es nach Beitritt und Hinterlegung der Ratifizierungsurkunde
unterlassen hat, den Pakt gemäß Art. 51 VerfDDR zum
Anlaß für innerstaatliche
Gesetzesänderungen zu nehmen und von der Volkskammer
"bestätigen" zu lassen.
(c) Schließlich tritt die Allgemeine Erklärung der
Menschenrechte (Resolution der Generalversammlung der Vereinten
Nationen vom 10. Dezember 1948) hinzu, deren rechtliche Bedeutung der
Senat in seinem Urteil BGHSt 40, 241, 245 ff. beschrieben hat.
(2) Die Angeklagten waren als Mitglieder des Politbüros
persönlich zum Schutz von Leben und körperlicher
Unversehrtheit auch derjenigen Bürger der DDR verpflichtet,
die die DDR gewaltlos verlassen wollten. Zu den nach Art. 30 Abs. 3
VerfDDR zur Hilfe berufenen staatlichen und gesellschaftlichen Organen
zählte in erster Linie das Politbüro. Die politische
Macht in der DDR ging von einem Herrschaftszentrum aus. Dieses
umfassend und unkontrolliert herrschende Führungszentrum der
DDR war das Politbüro des Zentralkomitees der SED, die
für alle Bereiche der DDR einen
Alleinführungsanspruch erhob. Dieser
Alleinführungsanspruch der SED war verfassungsrechtlich
gesichert durch Art. 1 Abs. 1 VerfDDR:
"Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der
Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der
Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der
Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei."
Das Politbüro war das höchste Entscheidungsgremium
der SED und damit das höchste Machtorgan der DDR. Jede
grundsätzliche politische Entscheidung wurde im
Politbüro gefällt. Das Politbüro
befaßte sich insbesondere mit der Außen-, der
Sicherheits- und der Innenpolitik. Es regelte grundlegende
übergreifende Bereiche auch in Detailfragen. Die
Entscheidungen des Politbüros hatten absolute Bindungswirkung
für die Mitglieder der SED, deren Aufgabe es war, die
Beschlüsse des Politbüros insbesondere durch den
vollständig instrumentalisierten Staatsapparat zu
verwirklichen. Auch gegenüber dem Ministerium für
Nationale Verteidigung und den Streitkräften beanspruchte das
Politbüro eine führende Rolle, die es mit Hilfe der
Kadernomenklatur und der sogenannten Politorgane verwirklichte. Dies
hat der Senat in seinem Urteil BGHSt 45, 270, 280 ff.
ausführlich dargestellt.
b) Danach waren die Angeklagten verpflichtet, ihre Machtposition als
Mitglieder des Politbüros in der Weise zu nutzen,
daß sie auf eine Änderung des praktizierten
Grenzregimes der DDR im Sinne eines Schutzes des Lebens und der
körperlichen Unversehrtheit von Flüchtlingen
hinwirkten. Zur Erreichung des Ziels einer solchen Humanisierung des
Grenzregimes wäre nicht etwa die Öffnung der Grenzen
der DDR zum westlichen Teil Deutschlands oder der Abbau der
mechanischen Sperrwerke an dieser Grenze erforderlich gewesen. Vielmehr
hat die Praxis der DDR bei besonderen Anlässen, wie
Staatsbesuchen und Parteitagen, als Erschießungen an der
Grenze
- scil. Nachrichten hiervon - vermieden werden sollten, gezeigt,
daß etwa eine Postenverdichtung an der Grenze es
ermöglichte, Flüchtlinge handgreiflich zu stellen,
statt sie aus größerer Entfernung zu
erschießen (vgl. BGHSt 45, 270, 303). Zumindest in diesem
Sinne hatten die Angeklagten sich im Politbüro zu
äußern und entsprechende Anträge zu stellen.
c) Das Unterlassen der Angeklagten war für die von den
Schützen begangenen Tötungshandlungen jedenfalls in
der Weise kausal, die nach dem Recht der DDR für die Beihilfe
vorausgesetzt wird.
aa) Für die Kausalität der Beihilfe genügt
danach, daß das Verhalten des Gehilfen die Straftat
"tatsächlich ermöglicht oder erleichtert" hat
(DDR-Kommentar § 22 Anm. 6). Dies ist hier erfüllt.
Die Verantwortlichen auf allen Ebenen - vom Nationalen Verteidigungsrat
bis hin zu den Schützen - handelten in dem
Bewußtsein, daß ihr Tun vom höchsten
Führungsorgan der DDR, dem Politbüro des
Zentralkomitees der SED, getragen und gebilligt war. Dies
stärkte ihre Motivation zur Begehung ihrer jeweiligen Taten.
bb) Anderes ergibt nicht etwa der Gedanke, daß die
Angeklagten mit der ihnen gebotenen Initiative naheliegenderweise am
Widerstand einer Mehrheit der anderen Mitglieder des
Politbüros gescheitert wären, sie die weitere
Tötung von Flüchtlingen also nicht verhindert
hätten. Es ist nämlich in der Rechtsprechung des
Obersten Gerichts der DDR anerkannt, daß mehrere sich
parallel verhaltende Täter regelmäßig
für den eingetretenen Erfolg nebeneinander strafrechtlich
verantwortlich sind. Dies gilt zunächst für den Fall
mehrerer parallel, aber unabhängig voneinander aktiv
vorgehender Täter (OGSt 3, 330) und für die
Fälle, in denen ein Täter aktiv handelt und daneben
ein Handlungspflichtiger untätig bleibt (OGSt 8, 204; 9, 325
m. Anm. Wittenbeck NJ 1967, 484; OGSt 14, 147). Insbesondere hat das
Oberste Gericht der DDR in zahlreichen Entscheidungen ausgesprochen,
daß die strafrechtliche Haftung eines
Unterlassungstäters nicht etwa dadurch ausgeschlossen ist,
daß andere in gleicher Weise Handlungspflichtige ebenfalls
untätig geblieben sind (so OGSt 2, 105, 108 zum Fall
paralleler Verantwortlichkeit des Bergbaubetriebsleiters und
Angehöriger mehrerer Bergbauaufsichtsbehörden; OGSt
9, 255, 263 f. betreffend mehrere zum Brandschutz verpflichtete
Betriebsangehörige; OGSt 9, 292 für das
Verhältnis von Fahrzeughalter und Fahrzeugreparateur; OGSt 11,
223, 232 betreffend zwei Ärzte, die nebeneinander eine
rechtzeitige Operation unterließen; OG NJ 1976, 719
betreffend mehrere leitende, für die Maschinensicherheit
verantwortliche Betriebsmitarbeiter). Hierzu ist hervorzuheben,
daß in allen diesen Fällen die Kausalität
von täterschaftlichem Unterlassen, nicht etwa die
Ursächlichkeit bloßer durch Unterlassen begangener
Beihilfe in Rede stand.
cc) Soweit im Kommentar zum StGB-DDR als weitere Voraussetzung der
Kausalität der Beihilfe genannt ist, daß der
Täter die ihm gewährte Unterstützung
ausgenutzt haben müsse, während nur straflose
versuchte Beihilfe vorliege, wenn der Täter von der
Unterstützung des Gehilfen keinen Gebrauch gemacht habe
(DDR-Kommentar § 22 Anm. 6), bleiben dabei ersichtlich die
Fälle der Beihilfe durch Unterlassen außer Betracht,
die indes in der genannten Kommentierung - unmittelbar davor -
bestätigend erläutert wird.
dd) Der Strafbarkeit der Angeklagten wegen durch Unterlassen begangener
Beihilfe zum Mord steht schließlich keinesfalls entgegen,
daß nicht festzustellen ist, die Schützen, die die
jeweils tödlichen Schüsse abgegeben haben, seien
bereits zu ihren Taten entschlossen gewesen, als die Angeklagten sich
jeweils pflichtwidrig verhielten. Allerdings findet sich im Kommentar
zum StGB-DDR im Rahmen der Umschreibung der Beihilfe die Wendung,
daß der Gehilfe "den zur Ausführung der Tat bereits
entschlossenen Täter" unterstützt (aaO § 22
Anm. 6). Dies ist jedoch nicht etwa dahin zu verstehen, daß
nur dem als omnimodo facturus handelnden Täter Beihilfe
geleistet werden könnte. Vielmehr handelt es sich bei der
genannten Passage erkennbar um eine Abgrenzung zur Anstiftung, die nach
der gleichen Kommentierung eine "vorher nicht gewollte Straftat"
voraussetzt (aaO § 22 Anm. 4). Gemeint ist mit den beiden
zitierten Wendungen, daß vom Teilnehmer ausgehende Impulse,
die den Tatentschluß des Täters erst
auslösen, nicht - nur - die nach der Systematik des §
22 StGB-DDR (Abs. 2 Nr. 1 und 3, Abs. 4 Satz 1) letztrangige und
minderstrafwürdige Beihilfe konstituieren, sondern
regelmäßig eine Anstiftung begründen werden
(vgl. Strafrecht der DDR Allgemeiner Teil Lehrbuch 2. Aufl. 1978 S. 376
f.). Entsprechendes hat der Senat mit seinen Ausführungen in
BGHSt 40, 218, 229, 231 und 45, 270, 302 bereits zum Ausdruck gebracht.
d) Auch die Zumutbarkeit des sub b beschriebenen Verhaltens war
gegeben. Während die Zumutbarkeit
normgemäßen Verhaltens des Handlungspflichtigen in
der kommentierenden und in der systematischen Darstellung des
Strafrechts der DDR keinen Platz - gar im Sinne einer gesonderten
Voraussetzung der Haftung des Unterlassungstäters - findet,
ist diese Zumutbarkeit doch vom Obersten Gericht der DDR formuliert
worden: Danach wird der Rettungspflichtige von seiner Hilfspflicht
nicht dadurch befreit, daß er im Fall der Hilfeleistung mit
Strafverfolgung rechnen muß, sofern es um die Rettung eines
Menschen aus Lebensgefahr geht (OGSt 3, 192 f.). Dementsprechend war
den Angeklagten - angesichts der jederzeit akuten Gefährdung
des Lebens von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze - das
gebotene Tun auch zuzumuten. Diskriminierungen oder gar Amtsverlust
hätten sie hinnehmen müssen.
II.
Nach dem Strafgesetzbuch haben die drei Angeklagten sich auf der
Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen wegen
Totschlags, begangen in mittelbarer Täterschaft durch
Unterlassen, strafbar gemacht.
1. In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist die Rechtsfigur
der mittelbaren Täterschaft durch Unterlassen anerkannt (BGHSt
40, 257, 265 ff.).
Auch im Schrifttum wird mittelbare Täterschaft in der Form der
Unterlassung für möglich gehalten (so Baumann JuS
1963, 85, 91; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT 10. Aufl. S. 624;
Blei, Strafrecht AT 18. Aufl. S. 260; Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. S.
845 f.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Teilbd. 2, 7. Aufl.
S. 280; Schmidhäuser, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 706; in diesem
Sinne auch Brammsen NStZ 2000, 337). Dagegen wird von anderen Autoren
die Rechtsfigur der mittelbaren Unterlassungstäterschaft
abgelehnt oder als obsolet erachtet (Cramer/Heine in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 25 Rdn.
54 f.; Grünwald GA 1959, 110, 122; Jescheck/Weigend,
Strafrecht AT 5. Aufl. S. 673; Armin Kaufmann, Dogmatik der
Unterlassungsdelikte 1959, S. 190; Roxin in LK 11. Aufl. § 25
Rdn. 216 sowie Täterschaft und Tatherrschaft 7. Aufl. S. 471
f.; Stratenwerth, Strafrecht AT I 4. Aufl. S. 403; Welzel, Strafrecht
11. Aufl. S. 206). Manche der genannten Autoren nehmen statt
mittelbarer Täterschaft "unmittelbare
Unterlassungstäterschaft" an (so Roxin in LK 11. Aufl.
§ 25 Rdn. 216; ähnlich Jescheck/Weigend aaO), was
für die Praxis auf ein gleichwertiges Ergebnis
hinausläuft.
In der bisherigen rechtswissenschaftlichen Diskussion ist die hier
vorliegende Konstellation, daß mehrere - jedenfalls, wie
hier, gleichrangige - Inhaber zentraler staatlicher Macht es
gleichzeitig pflichtwidrig unterlassen, ein bestehendes, von ihren
Weisungen abhängiges hierarchisch organisiertes System zu
ändern, das die Gefahr jederzeitiger rechtswidriger
Tötung von Menschen birgt, nicht in den Blick genommen worden,
so daß sie auch in den genannten kritischen Stellungnahmen
keine Beachtung findet. Schließlich kann die Anwendung der
Regeln über die mittelbare Täterschaft auf die
Fälle des Unterlassens nicht daran scheitern, daß im
Fall des Unterlassens ein "Anstoß" durch den Hintermann fehlt
(so aber Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft 7. Aufl. S.
471), ein "wirklicher Geschehensablauf gerade nicht
herbeigeführt wird" (so aber Stratenwerth aaO;
ähnlich Grünwald aaO). Denn mittelbare
Täterschaft setzt weder eine Aktivität des
Täters noch eine Kausalität nach dem für
aktives Tun geltenden Regeln voraus. Grundlage der Haftung des
pflichtwidrig untätigen Hintermannes ist vielmehr allein,
daß das Handeln Dritter ihm wegen seiner Tatherrschaft
zugerechnet wird (vgl. Schmidhäuser aaO). Diese Zurechnung
ersetzt - im Vergleich zur aktiven mittelbaren Täterschaft -
sein Tun. Fragen der Kausalität haben ihren Platz an anderer
Stelle.
2. Es führt die oben (sub I. 1.) beschriebene ununterbrochene
Verantwortungskette von den Mitgliedern des Politbüros
über die Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und die
militärischen Befehlsgeber zu denjenigen Soldaten der
Grenztruppen, die jeweils die tödlichen Schüsse auf
die Flüchtlinge abgegeben haben. In dieser Kette haben die
Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates und die Mitglieder des
Politbüros sich jeweils
- durch ihr aktives Verhalten, nämlich durch ihre Mitwirkung
an Beschlüssen dieser Gremien - wegen Totschlags in
mittelbarer Täterschaft strafbar gemacht. Dies hat der Senat
in den Urteilen BGHSt 40, 218 und 45, 270 ausführlich
dargelegt. Er hat dabei namentlich im Verhalten dieser Träger
höchster staatlicher Macht der DDR das Phänomen
gefunden, das Roxin (LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 128; NJW
Sonderheft für Gerhard Schäfer 2002, 52 ff.)
"Organisationsherrschaft" nennt: Der Hintermann eines
uneingeschränkt schuldhaft handelnden Täters kann
dann mittelbarer Täter sein, wenn er durch
Organisationsstrukturen bestimmte Rahmenbedingungen ausnutzt, innerhalb
derer sein Tatbeitrag regelhafte Abläufe auslöst.
Derartige Rahmenbedingungen mit regelhaften Abläufen kommen
bei Befehlshierarchien verschiedenster Art in Betracht. Handelt in
einem solchen Fall der Hintermann in Kenntnis dieser Umstände,
nutzt er insbesondere auch die unbedingte Bereitschaft des unmittelbar
Handelnden, den Tatbestand zu erfüllen, aus und will der
Hintermann den Erfolg als Ergebnis seines eigenen Handelns, ist er
Täter in der Form mittelbarer Täterschaft. Er besitzt
insbesondere die Tatherrschaft (BGHSt 40, 218, 236; 45, 270, 296).
Dieser Bewertung des aktiven Tuns von Mitgliedern des
Politbüros entspricht auch das Verhalten der Angeklagten - mit
der hinzutretenden Besonderheit, daß sie (nur) wegen
Unterlassungstäterschaft haften. Auch sie hatten das im Urteil
BGHSt 45, 270, 303 f. beschriebene eigene Tatinteresse und die
Tatherrschaft.
3. Hier liegt jeweils ein unechtes Unterlassungsdelikt im Sinne des
§ 13 StGB vor. Die Angeklagten hatten als Mitglieder des
Politbüros rechtlich dafür einzustehen, daß
die verfahrensgegenständlichen Tötungen nicht
geschahen. Diese ihre Garantenpflicht folgt schon aus Art. 30 Abs. 1
und 3 VerfDDR. Es treten die Vorschriften der Art. 6 Abs. 1 und Art. 12
Abs. 1 und 2 des IPbürgR sowie die Allgemeine
Erklärung der Menschenrechte hinzu. Insoweit gelten
zunächst die gleichen Gesichtspunkte, wie sie oben (sub I. 3.
a) für die Rechtslage in der DDR beschrieben sind.
Ergänzend zu dieser in konkreten Normen zu findenden Grundlage
der Garantenpflicht der Angeklagten ergibt sich, daß die
Angeklagten nach den materiellen Kriterien für die Bestimmung
einer Garantenstellung gar unter zweierlei Gesichtspunkten
garantenpflichtig waren: Es wird unterschieden zwischen solchen
Garantenpflichten einerseits, die daraus resultieren, daß der
Garant eine Schutzpflicht für bestimmte Rechtsgüter
hat, und andererseits solchen Garantenpflichten, die sich aus der
Pflicht zur Überwachung bestimmter Gefahrenquellen ergeben
(Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 19 ff.; Stree in
Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. § 13 Rdn. 9
ff.; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 13 Rdn. 5b,
5c; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Teilbd. 2, 7. Aufl. S.
197 ff.; ähnlich Jakobs, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 800 ff.).
Beide Aspekte kommen hier zum Tragen. Die Angeklagten waren sowohl
"Überwachungsgaranten" als auch "Beschützergaranten".
Als Mitglieder des höchsten Machtorgans der DDR waren sie
verpflichtet, das im Laufe der Jahre errichtete Grenzregime der DDR,
von dem eine jederzeit akute Lebensgefahr für friedliche
Flüchtlinge ausging, in der Weise zu überwachen und
zu steuern, daß eine Tötung solcher
Flüchtlinge unterblieb. Zum anderen waren die Angeklagten nach
Art. 30 Abs. 1 und 3 VerfDDR verpflichtet, das Leben eines jeden
Bürgers der DDR zu schützen (oben sub I. 3. a bb).
4. Danach war es den Angeklagten geboten, sich, wie oben (sub I. 3. b)
beschrieben, im Politbüro durch Äußerungen
und Anträge für eine Änderung des
Grenzregimes im Sinne einer Humanisierung desselben und damit zur
Rettung des Lebens der Flüchtlinge aktiv einzusetzen. Unter
dem Gesichtspunkt der Handlungspflicht der Angeklagten bleibt es ohne
Bedeutung, daß es ungewiß ist, ob die Angeklagten
durch die ihnen gebotenen Aktivitäten jeweils das Leben der
Opfer tatsächlich gerettet hätten. Nur die sicher
voraussehbare Erfolglosigkeit eines Rettungsbemühens
läßt die Handlungspflicht entfallen (BGHR StGB
§ 13 Abs. 1 Zumutbarkeit 1 [= JR 1994, 510 m. Anm. Loos],
Zumutbarkeit 2; vgl. auch Puppe in Nomos-Kommentar, StGB 5. Lfg. vor
§ 13 Rdn. 110; Samson StV 1991, 182, 185). Solches liegt hier
nicht vor.
5. Das Unterlassen der Angeklagten war im Sinn der im Bereich des
unechten Unterlassens geltenden Kausalitätsregeln für
die den Angeklagten jeweils zuzurechnenden
Tötungsfälle "quasiursächlich". Dabei sind
einem jeden Angeklagten diejenigen Tötungsfälle
zuzurechnen, die sich nach seinem Eintritt ins Politbüro bis
zu einer dort erfolgten ausdrücklichen
Beschlußfassung über die Fortgeltung des
Grenzregimes im Sinne von BGHSt 45, 270 zugetragen haben. Aus dem
Rangverhältnis von Tun und Unterlassen ergibt sich,
daß eine Verantwortlichkeit für Unterlassen jeweils
durch eine solche ausdrückliche Beschlußfassung
begrenzt wird. Den Angeklagten B und L sind danach die Fälle 2
bis 4 anzulasten, dem Angeklagten H zunächst Fall 1. Ihm
wären über die Dauer seiner Mitgliedschaft im
Politbüro hinaus auch die Fälle 2 bis 4 anzulasten,
wenn nicht etwa in Bezug auf diese Fälle positives Tun durch
seine Mitwirkung an der Beschlußfassung vom 11. Juni 1985 an
die Stelle des Unterlassens getreten wäre.
a) Ein Unterlassen, also ein Nichtgeschehen kann - ontologisch - nicht
Ursache eines Erfolges sein. Deshalb stellen die ständige
Rechtsprechung und die allgemeine Lehre zur - notwendigerweise
normativen - Beurteilung der Kausalität bei den unechten
Unterlassungsdelikten auf die "hypothetische Kausalität" ab.
Diese birgt für die Fälle des Unterlassens die
Entsprechung zu der nach der Äquivalenztheorie in den
Fällen aktiven Tuns anzuwendenden conditio sine qua
non-Formel. Danach ist ein Unterlassen dann mit dem Erfolg als
"quasiursächlich" in Zurechnungsverbindung zu setzen, wenn
dieser beim Hinzudenken der gebotenen Handlung entfiele, wenn also die
gebotene Handlung den Erfolg verhindert hätte (BGHSt 37, 106,
126 m. N. der Rspr.; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 16 bis
18; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl.
§ 13 Rdn. 61; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. vor
§ 13 Rdn. 20; Schmidhäuser, Strafrecht AT 2. Aufl. S.
684 ff.: "juristische Kausalität"). Hätte das
Politbüro - auf Initiative eines seiner Mitglieder -
beschlossen, das bestehende Grenzregime in der oben (sub I. 3. b)
beschriebenen Weise zu humanisieren, wären die hier
verfahrensgegenständlichen Tötungen ausgeblieben. Der
Nationale Verteidigungsrat und alle Gliederungen der Grenztruppen
hätten die Anordnung des höchsten Machtorgans der DDR
befolgt.
b) Im Ergebnis bleibt es ohne Bedeutung, daß die DDR in Bezug
auf das Grenzregime nur eingeschränkt souverän war,
daß sie nicht gegen den Willen der UdSSR die Grenze
durchlässig machen oder gar das Grenzregime beseitigen durfte.
Denn die Aufrechterhaltung und namentlich die Ausgestaltung des
Grenzregimes hatte die UdSSR weitgehend der DDR überlassen. So
hatte die DDR - und mithin das Politbüro - eine wesentliche
eigene Entscheidungskompetenz, von der auch Gebrauch gemacht wurde.
Dies zeigen der "eigenmächtige" Abbau der Erdminen und
Selbstschußanlagen im Jahr 1985 und die bei Staatsbesuchen
und Parteitagen getroffenen Vorkehrungen zur Vermeidung von
Erschießungen durch Erhöhung der Postendichte. Das
hat der Senat in seinem Urteil BGHSt 45, 270, 302 f. näher
dargestellt. Eine entsprechende Humanisierung des Grenzregimes
hätte die hier in Rede stehenden Erschießungen
verhindert.
c) Für die Beurteilung der "Quasi-Kausalität" des
Unterlassens der Angeklagten kommt es nicht darauf an, welche Wirkung
das Handeln gehabt hätte, das jedem einzelnen von ihnen
geboten war. Vielmehr ist auf das parallele Unterlassen aller
derjenigen abzustellen, die ebenso wie die Angeklagten pflichtwidrig
untätig geblieben sind, also auf die Untätigkeit
aller Mitglieder des Politbüros im hier relevanten Zeitraum.
Deshalb bleibt es ohne Bedeutung, daß jeder der Angeklagten
möglicherweise im Politbüro mit der ihm gebotenen
Initiative an einer entgegenstehenden Mehrheit gescheitert
wäre. Kann die zur Schadensabwendung erforderliche
Maßnahme nur durch das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter
zustande kommen, so setzt jeder, der es trotz seiner
Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu
zu leisten, eine Ursache dafür, daß die
Maßnahme unterbleibt; innerhalb dieses Rahmens haftet er
für die sich daraus ergebenden
tatbestandsmäßigen Folgen. Dabei kann er sich nicht
damit entlasten, daß sein Bemühen, die gebotene
Kollegialentscheidung herbeizuführen, erfolglos geblieben
wäre, weil ihn die anderen Beteiligten im Streitfalle
überstimmt hätten. Sonst könnte sich jeder
Garant allein durch den Hinweis auf die gleichartige und ebenso
pflichtwidrige Untätigkeit gleichgeordneter Garanten von jeder
strafrechtlichen Haftung freizeichnen (BGHSt 37, 106, 131 f.).
Dieses Prinzip, im Fall parallelen Unterlassens gleichrangiger Garanten
(auch kumulatives Unterlassen genannt) für die Beurteilung der
"Quasi-Kausalität" nicht etwa auf das alleinige Verhalten des
einzelnen Garanten, sondern auf das Verhalten der Garantengemeinschaft
abzustellen, hat im Schrifttum weitgehend Zustimmung gefunden
(Beulke/Bachman JuS 1992, 737, 742 ff.; Brammsen Jura 1991, 533, 536
ff.; Deutscher/Körner wistra 1996, 292, 327, 332 f.;
Hilgendorf NStZ 1994, 561, 563; Kuhlen NStZ 1990, 566, 569 f. und JZ
1994, 1142, 1146; Bernd-Dieter Meier NJW 1992, 3193, 3197 f.; Ransiek,
Unternehmensstrafrecht 1996 S. 59 ff.; Schaal, Strafrechtliche
Verantwortlichkeit bei Gremienentscheidungen in Unternehmen 2001 S. 202
ff.; Stratenwerth, Strafrecht AT 4. Aufl. S. 404). Manche Autoren
stimmen dem Ergebnis zu, beschreiben jedoch eigene
Begründungswege, finden insbesondere den Kern des Problems in
der Frage der Garantenpflicht (so Puppe in Nomos-Kommentar, StGB 5.
Lfg. vor § 13 Rdn. 109 f. und Sofos,
Mehrfachkausalität beim Tun und Unterlassen 1999 S. 249 ff.,
263).
Der erhobenen Kritik an dieser Sicht ist folgendes entgegenzuhalten:
Soweit Samson StV 1991, 182, 185 meint, bei Untätigkeit
parallel handlungspflichtiger Garanten hafteten allein diejenigen, die
zuerst "den Eindruck der Uneinsichtigkeit erweckt" hätten,
nicht aber diejenigen, die "resignierten", vernachlässigt dies
die Gleichrangigkeit der Handlungspflicht aller Garanten. Soweit gar
argumentiert wird, das Abstellen auf die Untätigkeit aller
Garanten, deren Unterlassen zu erwarten sei, erinnere an
"Geßlers Hut" (Dencker, Kausalität und Gesamttat
1996 S. 170), ist zu entgegnen: Die Beurteilung der
"Quasi-Kausalität" des Unterlassens erfolgt allein nach
normativen Kriterien. In diesem Zusammenhang ist
rechtmäßiges Verhalten der parallelen Garanten zu
unterstellen; denn das Recht hat von der Befolgung seiner Regeln
auszugehen (Sofos aaO S. 263; vgl. auch Jakobs in Festschrift
für Koichi Miyazawa 1995 S. 419, 423).
6. Die kollektive Verweigerung des gebotenen Handelns durch
gleichermaßen verpflichtete Garanten, nämlich die
Angeklagten und die übrigen untätig gebliebenen
Mitglieder des Politbüros, stellt sich als
Nebentäterschaft, auch Mehrtäterschaft genannt (vgl.
Cramer/Heine in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl.
§ 25 Rdn. 100; Roxin in LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 222
f.; Tröndle/Fischer, StGB 50. Aufl. § 25 Rdn. 11;
Fincke GA 1975, 161 ff.), dar. Der Annahme einer
Mittäterschaft bedarf es hier nicht, da es nicht erforderlich
ist, - wie typischerweise in Fällen aktiver
Mittäterschaft - jedem Mittäter aktive
Tatbeiträge anderer Mittäter zuzurechnen.
Auch die oben (sub 5.) beschriebene "Quasi-Kausalität", wonach
der "quasiursächliche" Beitrag jedes einzelnen
Politbüro-Mitgliedes zum jeweiligen Taterfolg nicht in der
gedachten bloßen Konsequenz des individuellen Unterlassens zu
suchen, sondern in der hypothetischen Folge des gemeinschaftlichen
Unterlassungsverhaltens aller Politbüro-Mitglieder zu finden
ist, nötigt nicht etwa zu der Prüfung, ob auch die
Voraussetzungen einer Mittäterschaft, namentlich ein
gemeinschaftlicher Tatentschluß, vorliegen. 79
7. Zudem war es den Angeklagten zuzumuten, im Politbüro durch
Äußerungen und Anträge auf eine
Änderung des praktizierten Grenzregimes hinzuwirken.
Angesichts der Schwere der drohenden Übel (vgl. BGHSt 4, 20,
23; BGH NJW 1964, 731, 732; BGH NStZ 1984, 164), hier der jederzeit
bevorstehenden rechtswidrigen Tötung von Menschen, hatte das
Interesse der Angeklagten an der Erhaltung ihrer Reputation und ihrer
Ämter zurückzustehen. Zur Erhaltung von Menschenleben
sind äußerste Anstrengungen zu fordern (BGHR StGB
§ 13 Abs. 1 Zumutbarkeit 1 = JR 1994, 510 m. Anm. Loos).
Allerdings kann es unter dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit bedeutsam
sein, daß das Rettungsbemühen nur eine verschwindend
geringe Rettungschance bietet (BGH aaO). So liegt es hier aber nicht.
Die vielfach aus akuten Anlässen zur Vermeidung von
Erschießungen vorgenommene Umgestaltung der
Grenzsicherungsmethoden und der Abbau von Erdminen und
Selbstschußanlagen (vgl. BGHSt 45, 270, 303; oben sub I. 3. b
und
II. 5. b) zeigen, daß eine Humanisierung des Grenzsystems zur
Vermeidung der Erschießung von Flüchtlingen durchaus
möglich war. Insoweit ist gleichfalls nicht auf die
Aussichtslosigkeit der Einzelbemühungen abzustellen.
8. Auch entspricht das Unterlassungsverhalten der Angeklagten einer
aktiven vorsätzlichen Tötung im Rahmen des
Wertungsvergleichs, den die Vorschrift des § 13 Abs. 1 StGB
gebietet. Die Innehabung zentraler Macht an der Spitze einer
Staatsführung läßt aktives rechtswidriges
Tun einerseits und das Untätigsein angesichts einer
bestehenden rechtswidrigen Praxis andererseits besonders eng
zueinanderrücken (vgl. die Auslegung der letzten beiden
Politbürobeschlüsse zur Grenzsicherung, BGHSt 45,
270, 289 f.).
9. Schließlich stellt sich die Beteiligung der Angeklagten an
den Tötungen nicht etwa nur als Beihilfe zu den Taten der den
Angeklagten in verschiedenster Weise nachgeordneten Tätern
dar. Allerdings ist die Abgrenzung zwischen Täterschaft und
Beihilfe für die Fälle des pflichtwidrig
untätigen Hintermannes in der Rechtsprechung wenig gesichert
(vgl. BGHSt 2, 150, 151; 4, 20, 21; 13, 162, 166; 40, 257, 268; BGH NJW
1951, 204, 205 und 1966, 1763) und im Schrifttum umstritten (vgl.
Cramer/Heine in Schönke/Schröder, StGB 26. Aufl. vor
§ 25 Rdn. 104; Jescheck in LK 11. Aufl. § 13 Rdn. 57;
Roxin in LK 11. Aufl. § 25 Rdn. 201 ff. je m. w. N.). Indes
kann es nicht zweifelhaft sein, daß die Angeklagten nach
allen in Betracht kommenden Kriterien Unterlassungstäter - und
nicht nur unterlassende Gehilfen - waren. Sie waren als Inhaber
zentraler staatlicher Macht sowohl "Überwachungsgaranten" als
auch "Beschützergaranten" (oben sub 3). Die ihnen
Nachgeordneten bis zu den Schützen hatten nach ihren Weisungen
zu handeln, was das Selbstverständnis und die Willensrichtung
der Angeklagten prägte. Die Verantwortlichkeit nimmt in
Fällen solcher "Organisationsherrschaft" mit
größerem Abstand zum Tatort typischerweise nicht ab,
sondern zu (BGHSt 40, 218, 237; F.C. Schroeder, Der Täter
hinter dem Täter 1965 S. 166 f.). Jede wertende Betrachtung
bestätigt das gefundene Ergebnis.
10. Das tateinheitliche pflichtwidrige Unterlassen der Angeklagten
führte zu mehreren Tötungsfällen. Dies
begründet eine einzige Unterlassungstat jedes Angeklagten
(BGHSt 37, 106, 134).
III.
Welches dieser Rechte bei der Beurteilung der Unterlassungstaten der
Angeklagten als das mildere Recht (Art. 315 Abs. 1 EGStGB i.d.F. des
Einigungsvertrages i.V. mit § 2 Abs. 3 StGB) anzuwenden ist,
bestimmt sich - bei Anwendung des Grundsatzes strikter
Alternativität (BGHSt 37, 320, 322; 38, 18, 20; 41, 247, 277)
- nach folgendem: Nach dem Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland
wird sich eine Anwendung des Strafrahmens des § 213 StGB im
Hinblick auf die zweite Alternative der Vorschrift aufdrängen
(vgl. BGHSt 45, 270, 306), der gemäß § 49
Abs. 1 StGB jedenfalls gemäß § 13 Abs. 2
StGB nochmals zu mildern sein wird. Andererseits wird aber auch das
Strafrecht der DDR hier naheliegend eine leichtere Strafart als
Freiheitsstrafe, insbesondere eine Verurteilung auf Bewährung
nach § 33 StGB-DDR zulassen, weil § 22 Abs. 4 Satz 1
StGB-DDR für den Fall der Beihilfe die Möglichkeit
der außergewöhnlichen Strafmilderung nach §
62 StGB-DDR und damit die Anwendung einer leichteren als der gesetzlich
vorgesehenen Strafart Freiheitsstrafe ermöglicht, "wenn die
Tat weniger schwerwiegend ist", was anzunehmen sich schon im Blick auf
das abzuurteilende Unterlassen aufdrängen wird.
B.
Soweit die Revision der Staatsanwaltschaft sich gegen den Freispruch
des Angeklagten H richtet, hat sie aus einem weiteren Gesichtspunkt
Erfolg. Das Landgericht hat die diesem Angeklagten vorgeworfene Tat
nicht umfassend rechtlich gewürdigt. Dies begründet -
auch - einen sachlich-rechtlichen Fehler (BGH StV 1981, 127, 128 m. w.
N. der Rspr.; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl.
§ 264 Rdn. 12; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, StPO 25.
Aufl. § 264 Rdn. 74), so daß es auf die in diesem
Zusammenhang erhobenen Verfahrensrügen nicht ankommt.
Die Anklage wirft dem Angeklagten H - neben dem Unterlassen -
zusätzlich vor, am Beschluß des Politbüros
vom 11. Juni 1985 mitgewirkt zu haben (Anklageschrift S. 17).
Angesichts dessen, daß das Verhalten eines jeden Angeklagten
im Politbüro während seiner Mitgliedschaft in diesem
Gremium als eine einheitliche Tat im Sinne des § 264 StPO zu
verstehen ist, kann kein Zweifel daran bestehen, daß dem
Angeklagten H auch die Tötungsfälle 2 - betreffend Bi
vom 24. November 1986, 3 - betreffend S vom 12. Februar 1987 und 4 -
betreffend G vom 5. Februar 1989 (Anklageschrift S. 22 f.) zur Last
gelegt sind. Dies gilt, wenngleich der Anklagesatz insoweit
auslegungsbedürftig ist.
Hätte das Landgericht eine Mitwirkung des Angeklagten H an dem
Beschluß des Politbüros vom 11. Juni 1985
festgestellt, so würden sich für diesen Angeklagten
diejenigen rechtlichen Konsequenzen ergeben, die der Senat in dem
Urteil BGHSt 45, 270, 287 ff., 295 f. für andere an dem
genannten Beschluß des Politbüros Beteiligte gezogen
hat, nämlich eine Strafbarkeit wegen Totschlags in mittelbarer
Täterschaft nach dem StGB (bei Anstiftung zum Mord nach dem
Recht der DDR).
Das Landgericht hat diesen Teil des Vorwurfs gegen den Angeklagten H im
Urteil gar nicht geprüft. Auch dies führt insoweit
zur Aufhebung des Urteils. Da bei dem Angeklagten H das positive Tun
einer etwaigen Mitwirkung an dem Beschluß vom 11. Juni 1985
die bloße mit pflichtwidrigem Unterlassen einhergehende
Mitgliedschaft im Politbüro gleichsam verstärkend
überlagern würde, begründete eine
Strafbarkeit dieses Angeklagten im Fall 1 wegen Unterlassens und in den
Fällen 2 bis 4 durch positives Tun - nicht anders als bei
einem fortdauernden Unterlassen - eine einheitliche Tat.
C.
Danach ergibt sich auf der Grundlage der Feststellungen des
angefochtenen Urteils, daß die Angeklagten sich
während ihrer Mitgliedschaft im Politbüro nach dem
Strafgesetzbuch wegen Totschlags durch Unterlassen, nach dem Recht der
DDR wegen durch Unterlassen begangener Beihilfe zum Mord strafbar
gemacht haben. Gleichwohl erachtet der Senat es für geboten,
die Angeklagten nicht von hier aus schuldig zu sprechen, sondern die
Sache in vollem Umfang an einen neuen Tatrichter
zurückzuverweisen. Sonst würde den Angeklagten, die
gegen die Freisprüche Rechtsmittel nicht einlegen und somit
die Richtigkeit der getroffenen Feststellungen nicht angreifen konnten,
eine Instanz genommen (BGH StV 1999, 415 m. Anm. Pauly; BGHR StPO 354
Abs. 1 Schuldspruch 1; BGHR StGB § 339 Staatsanwalt 1;
Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 45. Aufl. § 354 Rdn.
23 m. w. N.; vgl. aber die andere Verfahrensweise in BGHSt 36, 277, 282
f. und BGH, Urt. vom 15. August 2002 - 3 StR 11/02).
D.
Schließlich bemerkt der Senat folgendes:
I.
Soweit dem Angeklagten H ein Unterlassen zur Last gelegt wird, geben -
freilich vage - Feststellungen im angefochtenen Urteil Anlaß
zu einem Hinweis: So hatte der Angeklagte zahlreiche Kontakte in die
Bundesrepublik Deutschland und unternahm "kleine Schritte", um "in
Fragen der Grenze und der Freizügigkeit eine Änderung
zum Besseren herbeizuführen", womit er jedoch scheiterte. Es
erscheint nicht völlig ausgeschlossen, daß der
Angeklagte damit gar - unter den Gesichtspunkten des Unterlassens -
derjenigen Handlungspflicht nachgekommen ist, die ihm als Mitglied des
Politbüros oblag. Insoweit wird darauf Bedacht zu nehmen sein,
daß ein entsprechendes als konkret aussichtsreich erachtetes
Verhalten die Zumutbarkeit eines rechtlich gebotenen Verhaltens in
Frage stellen kann, dessen Unterlassen zwar im Sinne der obigen
Darlegungen grundsätzlich strafrechtlich relevant war, das
tatsächlich jedoch kaum eine realistische Durchsetzungschance
hatte. Die Zumutbarkeit könnte dann unter dem Gesichtspunkt
entfallen, daß das eigentlich gebotene Verhalten
möglicherweise dazu geführt hätte,
daß realistische Erfolgschancen konkreter anderweitiger
Bemühungen, das Grenzregime abzumildern, entwertet worden
wären. Von einer strafrechtlichen Haftung wegen etwaiger
aktiver Mitwirkung am Beschluß des Politbüros vom
11. Juni 1985 könnte dies den Angeklagten H indes nicht
befreien. Jedoch wären Aktivitäten der genannten Art
gegebenenfalls für die Sanktionsentscheidung von so
erheblicher Bedeutung, daß die Sanktion an der untersten
Grenze des Zulässigen bemessen werden müßte.
II.
Im Fall eines Schuldspruchs wird bei der Strafzumessung betreffend alle
Angeklagte dem Zeitfaktor - auch unter Bedacht auf die Dauer des
Revisionsverfahrens - Rechnung zu tragen sein (vgl. BGHR StGB
§ 46 Abs. 2 Verfahrensverzögerung 13).
III. 100
Der Senat findet erstmalig eine Verantwortlichkeit hoher
Funktionsträger der DDR für Tötungen an der
innerdeutschen Grenze unter dem Gesichtspunkt des Unterlassens. Dies
hat seine Gründe in der besonderen Rangstellung des
Politbüros und seiner Mitglieder. Es erscheint
gänzlich fernliegend, daß der Senat eine
entsprechende Handlungspflicht hoher Funktionsträger der DDR,
die unterhalb dieser Machtebene standen, bejahen würde. 101
Harms Häger Basdorf Gerhardt Raum
|