BGH,
Urt. v. 6.11.2007 - 1 StR 394/07
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 394/07
vom
6.11.2007
in der Strafsache
gegen
wegen Rechtsbeugung u.a.
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
6.11.2007, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack,
die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Boetticher,
Hebenstreit,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf
und der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Oberstaatsanwalt beim Bundesgerichtshof
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
- 3 -
Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten gegen das
Urteil des Landgerichts Mannheim vom 21. März 2007 werden
verworfen.
Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die
Kosten des Rechtsmittels der Staatsanwaltschaft und die hierdurch dem
Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse
zur Last.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Rechtsbeugung in Tateinheit
mit Strafvereitelung im Amt zu der Freiheitsstrafe von neun Monaten
verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt.
Mit seiner mit der Sachrüge und einer Formalrüge
begründeten Revision erstrebt der Angeklagte seinen
Freispruch. Die zum Nachteil des Angeklagten eingelegte und ebenfalls
auf eine Formalrüge und die Sachrüge
gestützte Revision der Staatsanwaltschaft ist auf den
Rechtsfolgenausspruch beschränkt. Beiden Revisionen bleibt der
Erfolg versagt.
1
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I.
Das Landgericht hat festgestellt:
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Der Angeklagte ist - derzeit vom Dienst suspendiert - Staatsanwalt bei
der Staatsanwaltschaft Mannheim. Krankheitsbedingt geriet er immer
wieder mit der Bearbeitung von Ermittlungsverfahren in Verzug.
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Die Verurteilung durch das Landgericht basiert auf Verfehlungen bei der
Bearbeitung des seit November 2002 bei der Staatsanwaltschaft Mannheim
im Dezernat des Angeklagten anhängigen Ermittlungsverfahren
gegen P. S. wegen des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes. Die
Abgabe der Sache an die Staatsanwaltschaft Dessau, die bereits wegen
mehrerer vergleichbarer Vorwürfe gegen P. S. ermittelte,
scheiterte. Eine Einstellung des Mannheimer Verfahrens
gemäß § 154 Abs. 1 StPO war ihm von seinem
Dienstvorgesetzten untersagt worden. Da er beides nicht akzeptierte,
unterließ es der Angeklagte zunächst, das Verfahren
ordnungsgemäß zu betreiben, insbesondere die
Vernehmung des Tatopfers und des Beschuldigten zu veranlassen, und dann
Anklage zu erheben, bis er sich entschloss, dies dauerhaft zu
verhindern, und er hierzu - in seiner Steuerungsfähigkeit
erheblich eingeschränkt - zu Täuschungen und
Manipulationen griff. Als im Februar 2005 die Entdeckung bevorstand,
offenbarte er sich seinem Dienstvorgesetzten.
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Im Einzelnen:
5
1. Zur Person des Angeklagten:
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Spätestens in seinem elften Lebensjahr machte sich beim
Angeklagten erstmals das
„Gillesdela-Tourette-Syndrom“ (ICD10: F95.2)
bemerkbar, eine Störung der Stoffwechselvorgänge im
Gehirn. Dieses führt zu ansteigenden inneren
Spannungszuständen, die sich in - der willentlichen Steuerung
weitgehend entzogenen - Tics schlagartig entladen. Beim Angeklagten
sind dies unwillkürliche Bewegungen - vor allem grimassierende
Gesichtszuckungen, Kopfdrehungen und Schulterhebungen - sowie die
Abgabe von Lauten, vornehmlich Räuspern und Rülpsen.
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Der Angeklagte war deshalb zunehmend isoliert.
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Dies kompensierte er durch besondere und auch erfolgsgekrönte
Anstrengungen vor allem im Hockeysport und im Studium der
Rechtswissenschaften, das er mit den weit
überdurchschnittlichen Noten „gut“ im
ersten und - nach dem Referendariat -
„vollbefriedigend“ im zweiten Staatsexamen
abschloss. Diese Erfolge beflügelten ihn und stärkten
sein Selbstvertrauen. Während der Referendarzeit gelang es ihm
deshalb, einen Freundes- und Bekanntenkreis aufzubauen. 1991 heiratete
er.
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Mit den ihm eigenen Vorstellungen über besonders
qualitätsvolle Arbeit stieß er aber im Berufsleben,
nach seinem Eintritt in den Richterdienst (1990) und insbesondere nach
seinem Wechsel zur Staatsanwaltschaft - zunächst in Karlsruhe
-, angesichts der nunmehr geforderten schnelleren und in
höherem Maße ergebnisorientierten Arbeitsweise rasch
an seine Grenzen. Sein Selbst-
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- 6 -
wertgefühl schwand, er fühlte sich wieder wegen
seiner Erkrankung ausgegrenzt, litt zunehmend unter Antriebsarmut und
wurde ab 1998 depressiv.
Die Anzahl der nur mit großen Verzögerungen oder
überhaupt nicht bearbeiteten Verfahren wuchs. Um seine
Untätigkeit zu verschleiern, versteckte er
schließlich Akten in seinem Büro und veranlasste
Mitarbeiter der Geschäftsstelle unter der unzutreffenden
Behauptung, die Anklage sei bereits diktiert, Verfahren aus dem
staatsanwaltschaftlichen Register auszutragen. Mit Strafbefehl vom 25.
September 2000 wurde er wegen Strafvereitelung im Amt in sieben
Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit
Verwahrungsbruch mit einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 150
Tagessätzen belegt. Im anschließenden
Disziplinarverfahren wurde gegen den Angeklagten im Dezember 2002 auch
noch eine Geldbuße in Höhe von 2.000 €
festgesetzt.
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Wegen der zugrundeliegenden Vorfälle im Jahre 1999 an die
Staatsanwaltschaft Mannheim abgeordnet, später versetzt,
arbeitete der Angeklagte dort unter strenger Aufsicht seines
Abteilungsleiters „im Wesentlichen ohne
Beanstandungen“. Die Kontrollen wurden deshalb nach einigen
Monaten vermindert und schließlich auf das allgemein
übliche Maß zurückgeführt. Seine
depressive Erkrankung und die daraus resultierende Antriebsarmut
bestanden zwar fort. Dem vermochte er jedoch zunächst durch
besondere Anspannung seiner erprobten Willensstärke zu
begegnen. Die Anzahl der offenen Verfahren konnte er verringern. Im
Jahre 2001 wurde er deshalb zusätzlich mit der Bearbeitung von
Fällen nach dem Strafverfolgungsentschädigungsgesetz
betraut.
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Durch das Ergebnis des Disziplinarverfahrens im Dezember 2002
fühlte sich der Angeklagte unangemessen streng behandelt.
Seine Depression und seine daraus resultierende Antriebsarmut gewannen
wieder Überhand. Die Zahl
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der nicht ordnungsgemäß geförderten und
nicht erledigten Verfahren stieg im Jahre 2003 an. Seine
Berichtspflicht gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft
vernachlässigte er. Den zunehmenden inneren Spannungen
begegnete er mit zunächst mäßigem, bis
Februar 2005 allerdings ansteigendem Bierkonsum, mit dem er dann
bereits am Morgen vor Dienstantritt begann. Krankheitswert kam dem aber
nicht zu.
Zum Ende des Jahres 2003 hatte sich die Erkrankung des Angeklagten zu
einer mittelgradigen bis schweren „depressiven
Episode“ (ICD10: F32) entwickelt, die nunmehr seine gesamte
Daseinsgestaltung im beruflichen wie auch im allgemeinsozialen und
familiären Leben beeinträchtigte. Insgesamt war die
Erkrankung zu diesem Zeitpunkt so weit fortgeschritten, dass die
Steuerungsfähigkeit des Angeklagten erheblich vermindert war.
Dem stehe - so die sachverständig beratene Strafkammer - nicht
entgegen, dass der Angeklagte nicht nur die Weiterbearbeitung von
Verfahren unterließ, sondern auch aktives pflichtwidriges
Handeln an den Tag legte. Denn die ausgeprägte Willens- und
Denkhemmung habe bereits die Motivbildung des Angeklagten beeinflusst
und dessen Entscheidung gegen die Fortführung mitbestimmt.
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Die Tourette-Erkrankung selbst hatte keine unmittelbaren Auswirkungen
auf die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Angeklagten.
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2. Zum Tatgeschehen hat die Strafkammer festgestellt:
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a) Die anfängliche Verschleppung des Ermittlungsverfahrens:
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- Am 13. November 2002 ging im Dezernat des Angeklagten von der Polizei
eine Anzeige (46 Blatt) gegen P. S. wegen
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schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ein. Die Ermittlungen
standen am Anfang, insbesondere waren weder das Opfer noch der
Beschuldigte vernommen worden.
- Am 15. November 2002 verfügte der Angeklagte die Abgabe der
Sache an die Staatsanwaltschaft Dessau, die bereits wegen mehrerer
vergleichbarer Vorwürfe gegen P. S. ermittelte. Diese lehnte
aber die Übernahme „aus nicht nachvollziehbaren
Gründen“ ab. Im Dezember 2002 - in diesem Monat war
er auch mit der Disziplinarstrafe belegt worden - gingen die Akten
wieder beim Angeklagten ein. Hierüber war er
verärgert.
- Bis Juli 2003 blieb der Angeklagte in diesem Verfahren bis auf die
Verfügung der Versendung von Aktenteilen an das in Dessau mit
dem dortigen Verfahren gegen P. S. inzwischen befasste Gericht
untätig. Den Antrag von Rechtsanwalt K. , des Verteidigers des
P. S. , vom 2. April 2003, ihn als Pflichtverteidiger zu bestellen und
ihm Akteneinsicht zu gewähren, ließ er unbeachtet.
Nach wie vor verärgert über das Verhalten der
Staatsanwaltschaft Dessau, wollte er nun andere, insbesondere
ältere Verfahren vorrangig bearbeiten.
- Im Juli 2003 teilte ihm der Verteidiger des P. S. telefonisch mit,
dieser werde den sexuellen Missbrauch einräumen, die Anwendung
von Gewalt jedoch bestreiten. Daraufhin versuchte der Angeklagte - nach
einem Telefongespräch mit dem Vorsitzenden der Strafkammer des
Landgerichts Dessau - am 28. Juli 2003 erneut, die Sache an die
Staatsanwaltschaft Dessau abzugeben,
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mit der Anregung, entweder Nachtragsanklage zu erheben oder das
Verfahren gemäß § 154 Abs. 1 StPO
einzustellen. Einen von ihm unter dem 26. Juli 2003 gefertigten Entwurf
einer Anklageschrift fügte er bei. Am 31. Juli 2003 lehnte die
Staatsanwaltschaft Dessau die Übernahme des Verfahrens
wiederum ab.
- „Zunächst“ aus Verärgerung
darüber unterließ der Angeklagte weiterhin jegliche
Förderung der Sache. Neuerliche Akteneinsichtsgesuche des
Verteidigers vom 12. August und 7. November 2003 blieben unbeantwortet.
Den Termin der Berichtspflicht gegenüber der
Generalstaatsanwaltschaft über Ermittlungsverfahren, die
bereits ein Jahr anhängig sind, am 13. November 2003,
ließ der Angeklagte verstreichen.
- Am 15. Dezember 2003 erhielt der Angeklagte vom Verteidiger des P. S.
die schriftlichen Urteilsgründe zu dessen - nicht
rechtskräftiger - Verurteilung durch das Landgericht Dessau
vom 5. September 2003 wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in sechs
Fällen - in drei Fällen wegen schweren sexuellen
Missbrauchs - zu der Gesamtfreiheitsstrafe zu fünf Jahren und
der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus. Der Angeklagte
kündigte dem Verteidiger des P. S. - wie bereits im August in
Aussicht gestellt - die Einstellung des Mannheimer Verfahrens
gemäß § 154 Abs. 1 StPO an.
- Der Abteilungsleiter verweigerte die Zustimmung zu der ihm am 16.
Dezember 2003 vorgelegten Einstellungsverfügung. Dabei blieb
es auch nach einer im Januar 2004 einberufenen Dezernen-
- 10 -
tenbesprechung der Abteilung, in der der Angeklagte mit seiner Meinung,
das Verfahren sei zur Einstellung geeignet, alleine blieb. Der
Abteilungsleiter wies den Angeklagten nun an, Anklage zum Landgericht
Mannheim zu erheben. Er sagte jedoch erneute Prüfung einer
Einstellung zu, sollte die zuständige Jugendkammer dann
ihrerseits einen entsprechenden Vorschlag unterbreiten, was er
allerdings für ausgeschlossen hielt.
- Daraufhin bat der Angeklagte den Vorsitzenden der Jugendkammer des
Landgerichts Mannheim im Februar 2004 telefonisch um seine - sofortige
- Zusage, dass er - der Vorsitzende - eine Einstellung des Verfahrens
im Zwischenverfahren vorschlagen werde. Eine entsprechende Versicherung
lehnte der Vorsitzende vor Erhebung der Anklage und ohne Kenntnis der
Akten ab.
b) Der endgültige Tatentschluss:
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Um in dieser Situation das gegenüber Rechtsanwalt K. bereits
angekündigte Ergebnis - nämlich die Beendigung des
Verfahrens S. - jedenfalls faktisch zu erreichen, entschloss sich der
Angeklagte spätestens Ende Februar 2004, es - dauerhaft -
„einfach nicht mehr weiter zu bearbeiten“ und so P.
S. auf Dauer, zumindest auf ganz unbestimmte Zeit, weiterer
Strafverfolgung zu entziehen. Dabei kam es ihm insbesondere darauf an,
sich selbst weitere Arbeit zu ersparen, als auch - aus seiner Sicht -
unangenehme Nachfragen durch den Verteidiger, weshalb er trotz
gegenteiliger Zusage gleichwohl Anklage gegen seinen Mandanten erhebe,
zu vermeiden.
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c) Um dies zu verschleiern, ergriff der Angeklagte folgende
Maßnahmen:
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- Unter Hinweis auf das Band mit einer - weiteren - vom Angeklagten am
25. Februar 2004 diktierten kurzen Anklageschrift veranlasste er die
zuständige Mitarbeiterin der Geschäftsstelle, die ihm
vertraute, das Verfahren vorzeitig aus dem Register der
Staatsanwaltschaft auszutragen, zur Vermeidung der Entstehung einer -
wie sie entsprechend der Darstellung des Angeklagten meinte - erst
unmittelbar bevorstehenden Berichtspflicht gegenüber der
Generalstaatsanwaltschaft.
- Als ihm die Akte zur Unterschrift der Anklageschrift, die, wie er
wusste, mangels Anklagereife der Sache niemals vom Abteilungsleiter
gegengezeichnet worden wäre, vorgelegt wurde, unterzeichnete
er diese nicht, entfernte und vernichtete vielmehr die
auffällige rote „Gerichtsaktendecke“ und
versteckte die Sachakte in seinem Dienstzimmer, getrennt von der
Handakte und von dem wiederum an anderer Stelle verwahrten Berichtsheft.
- Am 27. Februar 2004 verfasste der Angeklagte den
überfälligen Rückstandsbericht an die
Generalstaatsanwaltschaft mit der unzutreffenden Behauptung, er habe am
25. Februar 2004 Anklage zum Landgericht erhoben. Bei der Weiterleitung
des Berichts wurde diese Unwahrheit nicht erkannt.
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d) Die Offenbarung:
Am 28. Januar 2005 fragte der Verteidiger des P. S. bei der
Staatsanwaltschaft schriftlich nach dem Stand des Verfahrens. Die
Geschäftsstelle leitete dies an das Landgericht weiter. Als
die Anfrage von dort zurückgegeben und dem Angeklagten zur
Überprüfung vorgelegt wurde, erkannte er, dass sich
seine Täuschung über die Anklageerhebung
herausstellen werde, zumal am 15. Februar 2005 der Beginn seines
einmonatigen Krankenhausaufenthalts bevorstand. In der Nacht von
Sonntag auf Montag, dem 14. Februar 2005, verfasste er in seinem
Dienstzimmer folgendes Schreiben an den - neuen - Abteilungsleiter:
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„Herr Se. ,
nachdem die StA Dessau in dieser Sache 2x die Übernahme des
Verfahrens abgelehnt hat, musste ich dieses hier führen. Mit
dem Verteidiger hatte ich telefonisch eine Einstellung gem. §
154 StPO abgesprochen.
Herr OStA Kn. hat sich gegen eine solche Einstellung ausgesprochen und
Anklageerhebung angeordnet; eine Einstellung gem. § 154 solle
durch das LG Mannheim beschlossen werden. Ich habe im Feb. 04
entsprechende Anklage verfasst, diese aber nicht abgelassen, da ich
beim Verteidiger, RA K. , im Wort stand und diesem gegenüber
eine Anklage nicht vertreten konnte.
Seit Feb. 04 habe ich das Verfahren nicht mehr weiter betrieben.
Ich meine, die Anklage sollte (im Register) zurückgenommen und
das Verfahren gem. § 154 eingestellt werden.
Ggf. sollte Anklage erhoben werden (ich habe diese am 14.02.05 neu
abgefasst) und mit RA K. besprochen werden, dass eine
Verfahrenseinstellung gem. § 154 StPO durch das LG Mannheim
erfolgt. § 154 ist sachgerecht!
F. “
- 13 -
Die neue - nunmehr dritte - Anklageschrift fügte er bei,
ebenso die Akte, die er provisorisch wieder mit einer - unbeschrifteten
- neuen roten Gerichtsaktendecke versehen hatte.
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e) Der Fortgang des Verfahrens:
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Nach der jetzt vom Abteilungsleiter forcierten Anklageerhebung wurde P.
S. schließlich am 17. März 2006 vom Landgericht
Mannheim wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit schwerem sexuellen
Missbrauch von Kindern in zwei Fällen unter Einbeziehung der
Einzelstrafen aus dem Urteil des Landgerichts Dessau zu der
Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt,
nunmehr unter Anordnung seiner Unterbringung in der
Sicherungsverwahrung. Aufgrund der durch den Angeklagten verursachten
Verfahrensverzögerung verminderte die Strafkammer die beiden
von ihr verhängten Einzelstrafen um jeweils neun Monate.
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II.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der
Revisionsrechtfertigungen deckt keinen Rechtsfehler auf.
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1. Die - auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte - Revision
der Staatsanwaltschaft:
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a) Mit einer Verfahrensrüge macht die Staatsanwaltschaft einen
Verstoß gegen § 261 StPO geltend. Das Landgericht
habe das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht umfassend
gewürdigt. Der in der Hauptverhandlung verlesene
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- 14 -
Strafbefehl des Amtsgerichts Karlsruhe vom 25. September 2000
(Vorstrafe des Angeklagten) sei nämlich in den
Urteilsgründen nur unvollkommen wiedergegeben worden.
Die Rüge ist unbegründet. Aus der sachgerecht
zusammenfassenden Darstellung der Grundlagen der Vorstrafe kann nicht
geschlossen werden, die Strafkammer habe nicht deren gesamten Inhalt in
ihre Bewertung einbezogen und deshalb deren Gewicht verkannt. Eine auf
das Wesentliche konzentrierte knappe Wiedergabe von Vorstrafen in den
schriftlichen Urteilsgründen ist wünschenswert. Das
wörtliche, zuweilen seitenlange Zitieren der Feststellungen in
Vorverurteilungen belastet die schriftliche Begründung meist
nur unnötig.
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b) Mit der Sachrüge beanstandet die Staatsanwaltschaft
insbesondere, hinsichtlich der Vorstrafe des Angeklagten habe die
Strafkammer nicht alle wesentlichen Zumessungsumstände
hinreichend berücksichtigt.
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Die Ausführungen hierzu stellen sich letztlich als
untauglicher Versuch dar, die eigenen
Strafzumessungserwägungen an die Stelle der rechtsfehlerfreien
Strafzumessung des Landgerichts zu stellen.
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Die Staatsanwaltschaft verkennt nicht, dass in den
Urteilsgründen die Vorstrafe als Strafzumessungsgrund genannt
wird: „... maßgeblicher
Strafschärfungsgrund war aber insoweit, dass sich der
Angeklagte durch die von jenem Straferkenntnis ausgehende Warnwirkung
von der neuerlichen Tat nicht abhalten ließ“.
Darauf, dass die Beschwerdeführerin dies gerne
stärker gewichtet gesehen hätte, kommt es nicht an.
Im Übrigen wird die Bedeutung, die das damals
zuständige Gericht der Sache beimaß, aus der
Strafhöhe deutlich. Nicht übersehen werden darf auch,
dass die seinerzeitige Verurteilung allein wegen
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- 15 -
Strafvereitelung, nachdem sich der Vorwurf jedenfalls teilweise auch
auf Rechtsbeugung erstreckt hatte, im Hinblick auf die Sperrwirkung des
§ 339 StGB unstimmig sein könnte. Sowohl den
Schuldspruch wie auch das Strafmaß hat die Staatsanwaltschaft
damals aber akzeptiert.
Dass die im vorliegenden Fall ausgesprochene Strafe so milde ist, dass
sie von ihrer Bestimmung, ein gerechter Schuldausgleich zu sein, so
weit nach unten abweicht, dass ein grobes Missverhältnis
zwischen Schuld und Strafe besteht, behauptet auch die
Beschwerdeführerin nicht. Die Strafkammer hat der besonderen
persönlichen Situation des Angeklagten angemessen Rechnung
getragen.
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2. Die Revision des Angeklagten:
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a) Mit der Verfahrensrüge beanstandet der
Beschwerdeführer die Verletzung des § 244 Abs. 2
StPO. Die Strafkammer hätte zur Klärung der
Schuldfähigkeit des Angeklagten, insbesondere zur Auswirkung
des Tourette-Syndroms hierauf, zwei weitere - namentlich benannte -
Sachverständige hören müssen.
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Die Rüge ist unbegründet.
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Die Strafkammer hat sich der Unterstützung des
Sachverständigen Dr. med. Pl. , Facharzt für
Neurologie und Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie und
Forensische Psychiatrie, bedient. Dieser war im Jahre 1992/1993 an der
Gründung der deutschen Tourette-Gesellschaft beteiligt. Weder
aus den Urteilsgründen noch aus der
Revisionsbegründung ergeben sich Zweifel an dessen Sachkunde.
Dass andere Sachverständige über überlegene
36
- 16 -
Forschungsmittel verfügen - und der Strafkammer dies
hätte bekannt sein müssen -, vermag der
Beschwerdeführer ebenfalls nicht darzulegen. Auch ist die
Beweisfrage - Auswirkung des Gillesdela-Tourette-Syndroms auf die
Schuldfähigkeit bei der Bearbeitung des Ermittlungsverfahrens
gegen P. S. - nicht so schwierig, dass dies von vorneherein zur
Heranziehung mehrerer Sachverständiger gezwungen
hätte. Die Strafkammer war daher nicht veranlasst, weitere
Sachverständige heranzuziehen, schon gar nicht musste sie sich
hierzu gedrängt sehen.
b) Die Sachrüge ist unbegründet.
37
aa) Die Beweiswürdigung ist - auch unter
Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens - rechtsfehlerfrei,
auch soweit die Strafkammer fehlende Schuldfähigkeit, mangels
Steuerungsfähigkeit, beim Vorgehen des Angeklagten im
Ermittlungsverfahren gegen P. S. ausschließt.
38
Die Tourette-Erkrankung hat insoweit keine unmittelbaren Auswirkungen
auf die Steuerungsfähigkeit. Die Strafkammer hat nicht
verkannt, dass die mittelbaren Folgen, wie gesellschaftliche
Isolierung, Verlust des Selbstwertgefühls, Versuch der
Kompensation durch Höchstleistung unter Fixierung auf
bestimmte Ziele mit vorhersehbaren Enttäuschungen, zwanghaftes
Handeln, schließlich Verfallen in - hier mittelgradige bis
schwere - Depression mit der hieraus resultierenden Antriebsarmut,
Denkhemmung und dem allgemeinen Niedergang der Stimmung, auch bei
aktivem Tun die Motivbildung beeinflussen kann. Dies hat das
Landgericht eingehend erörtert.
39
Der Angeklagte hatte sich - auch krankheitsbedingt - in sein Ziel, das
Ermittlungsverfahren P. S. auf andere Weise als durch Anklageerhe-
40
- 17 -
bung zu erledigen, geradezu verrannt, insbesondere nachdem ihm die
hierfür rechtlich zulässigen Wege versperrt waren, da
die Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft Dessau gescheitert
war - worüber er sich durchaus ärgern durfte - und
ihm die Einstellung des Verfahrens gemäß §
154 Abs. 1 StPO - gut nachvollziehbar - verboten worden war. Denn der
Angeklagte sah seine Sichtweise als die einzig richtige an und hielt
stur daran fest. Um sein Ziel dennoch zu erreichen, handelte er
rechtswidrig. Das wusste er. Dass er dann aber bei der sich
über Monate hinziehenden Bearbeitung bzw. Nichtbearbeitung des
Verfahrens so weitgehend determiniert gewesen sein soll, dass er
durchgehend nicht mehr in der Lage war, entsprechend der Einsicht in
die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens zu handeln bzw. bei
Vertuschungen so nicht zu handeln - oder auch seine
Überlastung anzuzeigen - drängt sich auch unter
Berücksichtigung der Revisionsrechtfertigung nicht auf.
Dagegen spricht schon, dass der Angeklagte nach der Vorverurteilung
unter Anspannung seiner Kräfte längere Zeit in der
Lage war, beanstandungsfrei zu arbeiten - bis er sich durch die
Disziplinarstrafe ungerecht behandelt sah. Im Verfahren gegen P. S.
stellte sich der Angeklagte bei den Vertuschungshandlungen geschickt
und überlegt an. Und auch soweit er gebotene
Maßnahmen nur unterließ, ging er selektiv vor.
Akteneinsichtsgesuche des Verteidigers und dessen Antrag, seine
Pflichtverteidigerbestellung zu veranlassen, ließ er
unbeachtet. Der Bitte des Gerichts in Dessau um Übersendung
von Aktenteilen entsprach er. Von dort erhoffte er sich ja noch eine
Übernahme bzw. eine Verurteilung, die ihm eine Einstellung
gemäß § 154 StPO ermöglichte.
Entwürfe für Anklageschriften fertigte er - unter
anderem zu Vertuschungszwecken - mehrere. Nur zur Anklagereife bringen
wollte er gerade dieses Verfahren nie. Dabei hätte ein
Ermittlungsauftrag an die Polizei zur Vernehmung des Beschuldigten und
des Tatopfers nicht mehr Aufwand erfordert als die einzel-
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- 18 -
nen Vertuschungshandlungen oder die Abgabeverfügungen an die
Staatsanwaltschaft Dessau. Sicher war dies alles von seinem Ziel -
keine Anklageerhebung in dieser Sache - geprägt. Dass bei
dieser differenzierten Vorgehensweise aber jede Handlung alternativlos,
ihm zwingend vorgegeben gewesen sein soll, vermag nicht zu
überzeugen.
Die sachverständig beratene Strafkammer kam gleichwohl zu dem
Ergebnis, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei der
Bearbeitung des Ermittlungsverfahrens gegen P. S.
eingeschränkt gewesen sei. Diese Einschränkung
bewertete sie dann auch als erheblich im Rechtssinne (§ 21
StGB). Das Vorliegen von Schuldunfähigkeit hat die Strafkammer
rechtsfehlerfrei ausgeschlossen.
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bb) Der Schuldspruch ist - auch im Übrigen - frei von
Rechtsfehlern.
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Der Angeklagte entschloss sich spätestens Ende Februar 2004,
das Ermittlungsverfahren gegen P. S. - dauerhaft - nicht mehr weiter zu
bearbeiten und so P. S. , der einer schweren Straftat - eines
Verbrechens - verdächtig war, auf Dauer, zumindest auf ganz
unbestimmte Zeit weiterer Strafverfolgung zu entziehen, und er setzte
dies dann durch schwerpunktmäßig aktives Handeln in
die Tat um. Die Staatsanwaltschaft Dessau hatte das Verfahren nicht
übernommen. Die Einstellung des Verfahrens nach § 154
Abs. 2 StPO war ihm verboten worden. Er war zudem von seinem
Abteilungsleiter - ohne dass es dessen bedurft hätte - sogar
noch ausdrücklich angewiesen worden, Anklage zu erheben. Er
war nach allem nicht nur dienstrechtlich, sondern im Hinblick auf das
Legalitätsprinzip strafprozessual (§ 152 Abs. 2 StPO)
gehalten, die Ermittlungen zum Abschluss zu bringen und - bei
hinreichendem Tatverdacht, was schon im Hinblick auf das
angekündigte Teilgeständnis zu
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- 19 -
erwarten war - P. S. anzuklagen. Dass er dies als der für
dieses Verfahren zuständige Staatsanwalt bewusst nicht
umsetzte, sondern gezielt durch aktive Manipulationen verhinderte,
stellt einen bewussten Rechtsbruch, eine objektive, wie auch - unter
Berücksichtigung der besonderen Umstände in der
Person des Angeklagten - subjektiv schwere Rechtsverletzung dar und
damit eine Rechtsbeugung im Sinne von § 339 StGB, hier in
Tateinheit mit Strafvereitelung im Amt gemäß
§§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 1 StGB.
Dass sich der Vorsatz des Angeklagten darauf gerichtet hätte,
die Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der
Sicherungsverwahrung, statt - wie im Verfahren in Dessau geschehen - in
einem psychiatrischen Krankenhaus, zu verhindern, hat die Strafkammer
nicht festgestellt.
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Nack Boetticher Hebenstreit
Frau Riin Elf ist urlaubsbedingt
ortsabwesend und deshalb an
der Unterschrift verhindert.
Nack Graf |