BGH,
Urt. v. 7.11.2006 - 1 StR 307/06
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
1 StR 307/06
vom
7.11.2006
in der Strafsache
gegen
wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung
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Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
7.11.2006, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof
Nack
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Wahl,
Dr. Kolz,
die Richterin am Bundesgerichtshof
Elf,
der Richter am Bundesgerichtshof
Dr. Graf,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Rechtsanwalt
als Verteidiger,
Rechtsanwalt
als Vertreter der Nebenklägerin,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Nebenklägerin wird das Urteil des
Landgerichts Stuttgart vom 23. Januar 2006 mit den Feststellungen
aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch
über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere
Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Der Angeklagte wurde wegen versuchter gefährlicher
Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin,
seiner geschiedenen Ehefrau, zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil wendet sich die auf
mehrere Verfahrensrügen und die Sachrüge
gestützte Revision der Nebenklägerin. Sie erstrebt
eine Verurteilung wegen Mordversuchs.
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Die Revision hat schon mit der Sachrüge Erfolg.
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1. Folgendes ist festgestellt:
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Der Angeklagte war 2004 wegen versuchten Totschlags und mehrerer
Körperverletzungsdelikte zum Nachteil seiner Ehefrau S. G. zu
zwei
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Jahren Freiheitsstrafe mit Bewährung verurteilt worden.
Ausgelöst worden waren die Taten dadurch, dass sie ein
Anwaltsbüro beauftragt hatte, das Scheidungsverfahren zu
betreiben. Nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft kam es
wieder zu einer Annäherung der inzwischen geschiedenen
Eheleute, die eine erneute Heirat erwogen. Sie machten
schließlich einen gemeinsamen Urlaub in Istanbul bei
Verwandten. Nach kurzer Zeit kam es dort wieder zu heftigen
Streitigkeiten, etwa weil sie sich „entsprechend der
westlichen Mode“ kleidete. Der Angeklagte kündigte
an, „er werde seine Frau töten, damit sei die Erde
vom Dreck gereinigt“. Er kaufte sich ein
Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 12 cm, um
damit auf die Nebenklägerin einzustechen, sowie einen
Wetzstahl. Unter dem Vorwand, die Nebenklägerin „ein
letztes Mal sprechen“ zu wollen, gelang es ihm, dass es zu
einer Autofahrt kam, an der außer ihm und der
Nebenklägerin noch die Eheleute E. teilnahmen; Frau E. ist die
Schwester der Nebenklägerin. Unmittelbar vor Beginn der Fahrt
versteckte er das Messer im Hosenbund. Er hatte auf dem
Rücksitz neben der Nebenklägerin sitzen wollen,
musste dann aber auf dem Beifahrerplatz sitzen. Die
Nebenklägerin saß hinter ihm, ihre Schwester neben
ihr. M. E. saß am Steuer. Schon nach ganz kurzer Fahrt
erklärte die Nebenklägerin, sie wünsche
keinen Kontakt mehr mit dem Angeklagten. „Hierüber
geriet der Angeklagte erneut in Zorn. Er zog sein … Messer
heraus, kniete sich auf den Sitz und versuchte unter bewusster
Ausnutzung von deren Arg- und Wehrlosigkeit mit einer von oben nach
unten gerichteten Bewegung mit dem Messer auf den Oberkörper
von S. G. einzustechen“. Der Fahrer M. E. , der gerade auf
ein Tankstellengelände eingebogen war, „wurde
… auf die Stichbewegung ... aufmerksam. Es gelang ihm, dem
Angeklagten in den Arm zu fallen und so eine Verletzung … zu
verhindern“. Er „kämpfte“ mit
dem Angeklagten um das Messer; es gelang ihm jedoch nicht, ihm das
Messer abzunehmen. Die Frauen konnten während dieses Kampfs
letztlich aus dem Pkw in das Büro der Tank-
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stelle fliehen. Der Angeklagte, noch immer im Besitz des Messers,
verfolgte die Nebenklägerin. Er schlug die Glasscheibe der
Türe des Tankstellenbüros ein. Es bedurfte des
Eingreifens mehrer Tankstellenbediensteter, um ihn aufzuhalten. Da er
„nicht zu bändigen“ war, musste er
gefesselt werden, bis die Polizei kam. Als er schließlich
abgeführt wurde, kündigte er der
Nebenklägerin an, sie zu töten.
2. Der Angeklagte hat geltend gemacht, nicht er habe angegriffen,
sondern er sei von E. mit dem Messer angegriffen worden. Dem ist die
Strafkammer nicht gefolgt. Sie konnte sich aber nicht von einem
Tötungsvorsatz des Angeklagten überzeugen. Zwar habe
er vor und nach der Tat angedroht, die Nebenklägerin
umzubringen, und er hätte „durch die konkrete Art
seines Vorgehens tödliche Verletzungen bewirken
können“. Sie habe jedoch, so führt die
Strafkammer aus, „keine sicheren Feststellungen zur
Zielrichtung des Stiches“ treffen können. Deshalb
ist sie zu Gunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass er die
Nebenklägerin nur verletzen wollte, und hat ihn deshalb - nur
- wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung
verurteilt.
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3. Die Beweiswürdigung hält rechtlicher
Überprüfung nicht Stand.
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a) Kann der Tatrichter nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen und
zieht hieraus die gebotene Konsequenz - hier: Verurteilung nur wegen
versuchter (gefährlicher) Körperverletzung, nicht
wegen eines versuchten Tötungsdelikts - so hat das
Revisionsgericht dies regelmäßig hinzunehmen. Die
Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters. Es kommt nicht
darauf an, ob das Revisi-onsgericht angefallene Erkenntnisse anders
gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte.
Daran ändert sich nicht einmal dann etwas, wenn eine vom
Tatrichter getroffene Feststellung „lebensfremd
erscheinen“ mag. Es gibt im Strafprozess
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keinen Beweis des ersten Anscheins, der nicht auf der Gewissheit des
Richters, sondern auf der Wahrscheinlichkeit eines Geschehensablaufs
beruht.
Demgegenüber ist eine Beweiswürdigung etwa dann
rechtsfehlerhaft, wenn sie schon von einem rechtlich unzutreffenden
Ansatz ausgeht, z. B. hinsichtlich des Umfangs und der Bedeutung des
Zweifelssatzes. Rechtlich zu beanstanden sind Beweiserwägungen
etwa auch dann, wenn sie erkennen lassen, dass das Gericht
überspannte Anforderungen an die zur Verurteilung
erforderliche Überzeugungsbildung gestellt hat. Dies ist auch
der Fall, wenn zu besorgen ist, dass die Zweifel des Gerichts ohne
konkrete Anhaltspunkte hierfür auf bloß
denktheoretische Möglichkeiten gestützt sind. Eine
absolute, das Gegenteil denknotwendig ausschließende und von
niemandem anzweifelbare Gewissheit ist nicht erforderlich; es ist weder
im Hinblick auf den Zweifelssatz noch sonst geboten, zu Gunsten des
Angeklagten von Annahmen auszugehen, für deren Vorliegen keine
konkreten Anhaltspunkte erbracht sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH NStZ-RR
2005, 147; 2005 149, jew. m. w. N.).
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b) An alledem gemessen sind die genannten Erwägungen nicht
rechtsfehlerfrei.
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Ein Messerstich in den Oberkörper ist eine
äußerst gefährliche Gewalthandlung, der die
Annahme einer Tötungsabsicht regelmäßig
nahe legt. Dies gilt umso mehr, wenn, wie hier, das - auch noch
überraschte - Opfer wegen der räumlich beengten
Verhältnisse praktisch keine Chance hat, die Wirkung des
Stichs durch Ausweichbewegungen oder sonst in irgendeiner Weise
abzumildern. Unter welchen Umständen bei einer solchen Tat
sonstige, in Tat oder Täter gründende
Umstände gleichwohl einen Tötungsvorsatz in Frage
stellen können, mag hier dahinstehen. Die Zweifel der
Strafkammer gehen nämlich nicht auf derartige
Umstände zurück, sondern allein darauf, dass zu der
“Zielrichtung“
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des jedenfalls auf den Oberkörper gerichteten Stiches keine
genaueren Feststellungen möglich seien. Welche Stelle des
Oberkörpers als Ziel eines von oben nach unten gerichteten
Messerstiches ein maßgebliches Indiz gegen den ansonsten von
der Strafkammer nicht mit konkreten Erwägungen in Zweifel
gezogenen Tötungsvorsatz sein könnte, liegt nicht auf
der Hand und hätte daher konkretisierender Darlegung bedurft,
die jedoch fehlt. Dementsprechend ist - im Hinblick auf die
Möglichkeit eines bedingten Tötungsvorsatzes - auch
nicht konkret dargelegt, dass und warum der Angeklagte geglaubt haben
könnte, unter den gegebenen Umständen eine solche
Stelle im Oberkörper zielgenau zu treffen, oder warum er sonst
ernsthaft darauf vertraut haben könnte, dass die
Nebenklägerin nicht tödlich verletzt werden
würde. Zu alledem kommt noch hinzu, dass die von der
Strafkammer vermissten Feststellungen zur präzisen
Zielrichtung des Stiches nach ihrer eigenen Bewertung kaum zu treffen
sind. Weder die Nebenklägerin noch ihre neben ihr sitzende
Schwester konnten Angaben dazu machen, was die Zielrichtung des Stiches
war; „naturgemäß“, so die
Strafkammer, waren sie hierzu nämlich „aufgrund der
engen räumlichen Verhältnisse im Pkw und der
Nähe zum Geschehen“ nicht in der Lage.
Die Zweifel der Strafkammer stellen sich unter diesen
Umständen insgesamt als - allenfalls - denktheoretische
Zweifel dar, die regelmäßig eine im Übrigen
nahe liegende Schlussfolgerung nicht in Frage stellen können.
Der Grundsatz, dass keine Veranlassung besteht, fern liegende
Möglichkeiten zu unterstellen, gilt umso mehr, wenn, wie hier,
die ungewöhnlichen Besonderheiten (eine unter den gegebenen
Umständen den Tötungsvorsatz in Frage stellende
Zielrichtung des auf den Oberkörper gerichteten Messerstichs)
nicht nur nicht bewiesen, sondern
„naturgemäß“ auch kaum beweisbar
sind.
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4. Dies führt zur Aufhebung des Urteils, ohne dass es auf
Weiteres noch ankäme.
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5. Der Senat sieht jedoch Anlass zu folgenden Bemerkungen:
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a) Der Fahrer des Pkw, der Zeuge M. E. , wurde in der Türkei
polizeilich vernommen. Anhaltspunkte dafür, dass er bei dem
kurzen und erkennbar hektischen Geschehen, bei dem er dem Angeklagten
in den Arm fiel, präzise Feststellungen zur Wucht des
beabsichtigten Stiches oder gar zum ex-akten Ziel des Stiches auf dem
Oberkörper der schräg hinter ihm sitzenden
Nebenklägerin gemacht hätte, ergeben sich aus dem
Protokoll dieser Vernehmung nicht. Seine Vernehmung in der
Hauptverhandlung scheiterte daran, dass der Zeuge, der nach Stuttgart
kommen wollte, wegen Steuerschulden nicht aus der Türkei
ausreisen durfte. Ein Rechtshilfeersuchen der Strafkammer ist bisher
nicht erledigt worden. Für den Fall, dass in der neuen
Hauptverhandlung eine Vernehmung des Zeugen E. in Betracht kommen
sollte und er weiterhin nicht aus der Türkei ausreisen darf,
könnte, sofern der Zeuge damit einverstanden ist, auch eine
Vernehmung durch das deutsche Konsulat zu erwägen sein.
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b) Der Senat hat hier allein über eine
Nebenklägerrevision zu befinden, die sich nicht allein gegen
den Strafausspruch wenden könnte (§ 400 StPO).
Für die neue Verhandlung bemerkt der Senat jedoch, dass
rechtliche Bedenken gegen die Annahme der Strafkammer bestehen, es
wirke sich hier - sogar in erheblichem Maße - strafmildernd
aus, dass der Angeklagte „einer an seinem
ursprünglichen Kulturkreis orientierten Einstellung und
Wertehaltung über die Rolle des Mannes in der Familie
verhaftet“ sei. Abgesehen davon, dass der Angeklagte seit
1981 ununterbrochen in Deutschland lebt und seit mehreren Jahren
deutscher Staatsangehöriger ist, könnten ohnehin in
einer fremden Rechtsordnung wurzelnde Verhaltensmuster, Vorstellungen
und Anschauungen
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gelmäßig nur dann strafmildernd
berücksichtigt werden, wenn sie im Einklang mit der fremden
Rechtsordnung stehen (Tröndle/Fischer, StGB 53. Aufl.
§ 46 Rdn. 43a m. w. N.). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Nack Wahl Kolz
Elf Graf |