BGH,
Urt. v. 8.3.2001 - 4 StR 477/00
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
4 StR 477/00
vom
8. März 2001
in der Strafsache gegen
wegen gefährlicher Körperverletzung u.a.
Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 8.
März 2001, an der teilgenommen haben: Vorsitzender Richter am
Bundesgerichtshof Prof. Dr. Meyer-Goßner und die Richter am
Bundesgerichtshof Maatz, Dr. Kuckein, Athing, Dr. Ernemann als
beisitzende Richter, Staatsanwalt in der Verhandlung, Staatsanwalt bei
der Verkündung als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
I.
Die Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft gegen das
Urteil des Landgerichts Düsseldorf vom 23. Mai 2000 werden
verworfen.
II. Der Angeklagte trägt die Kosten seines Rechtsmittels. Die
Kosten der Revision der Staatsanwaltschaft und die hierdurch dem
Angeklagten entstandenen notwendigen Auslagen trägt die
Staatskasse.
Von Rechts wegen
Gründe:
I.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher
Körperverletzung und wegen unerlaubten Entfernens vom
Unfallort zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und einem
Monat verurteilt; ferner hat es ihm die Fahrerlaubnis entzogen, seinen
Führerschein eingezogen und eine Sperrfrist von fünf
Jahren bestimmt, vor deren Ablauf dem Angeklagten keine neue
Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Gegen dieses Urteil wenden sich der
Angeklagte und die Staatsanwaltschaft mit ihren Revisionen. Der
Angeklagte beanstandet mit seiner Revision, mit der er die Verletzung
formellen und materiellen Rechts geltend macht, insbesondere die
Annahme vorsätzlich herbeigeführter Verletzung des
Tatopfers. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrem auf die
Sachbeschwerde gestützten Rechtsmittel die Verurteilung des
Angeklagten wegen versuchten Mordes. Beide Rechtsmittel haben keinen
Erfolg.
II.
Am Nachmittag des Tattages fuhr der Angeklagte zusammen mit den
gesondert Verfolgten A. und D. mit einem Kleintransporter des Typs
Renault Traffic auf den in Ratingen gelegenen Betriebshof der Spedition
des 71-jährigen Johann Sch. , um dort gelagerte gebrauchte
Gitterboxen und Paletten zu entwenden. Sie hatten bereits den
Kleintransporter verlassen, als sie von dem Kraftfahrer der Firma, T. ,
bemerkt wurden, der etwa zeitgleich mit einem Lkw auf den Betriebshof
gefahren war. Nach Rücksprache mit dem Juniorchef der Firma
forderte T. die drei auf, das Gelände sofort zu verlassen,
woraufhin sie sich zu dem Kleintransporter begaben. Bevor sie das
Fahrzeug erreicht hatten, kam ihnen Johann Sch. , der Seniorchef der
Firma, zusammen mit dem Kraftfahrer T. und drei weiteren
Betriebsangehörigen entgegen und forderte sie auf, "zum Zwecke
der Feststellung der Personalien stehen zu bleiben, er habe die Polizei
verständigt." Der Angeklagte und seine Begleiter wollten sich
"auf keinen Fall von der Polizei festnehmen lassen" und "entschlossen
.... sich, mit dem Kleintransporter zu fliehen". Während D.
und A. durch die Hofzufahrt auf die Straße rannten, gelang es
dem Angeklagten trotz Eingreifens von Johann Sch. , in den
Kleintransporter einzusteigen. Er wendete nunmehr das Fahrzeug, um das
Gelände ebenfalls zu verlassen, schaffte den Wendevorgang
jedoch nicht in einem Zuge, sondern mußte vor einer Mauer
kurz anhalten und zurücksetzen. Der Versuch eines der
Betriebsangehörigen, ihn in diesem Augenblick aus dem Fahrzeug
zu ziehen, mißlang. "Der Angeklagte legte den
Vorwärtsgang ein und gab kräftig Gas". Zu diesem
Zeitpunkt stand Sch. auf dem Zufahrtsweg mit Blickrichtung zur
Straße. "Als er hörte, wie hinter ihm der
Kleintransporter mit aufheulendem Motor und quietschenden Reifen
anfuhr, drehte er sich nach rechts um". Weiter stellt das Landgericht
fest (UA 11):
"Bevor er die Körperdrehung vollendet hatte, wurde er von der
Fahrerseite des Kleintransporters, welcher nach dem Anfahren etwa eine
Fahrzeuglänge zurückgelegt hatte, erfaßt,
so daß er .... teils an die Motorhaube, teils an die
Windschutzscheibe angeschmiegt wurde. Zugunsten des Angeklagten ist
anzunehmen, daß er ... Sch. überhaupt nicht gesehen
oder erst so spät bemerkt hat, daß er den
Zusammenstoß nicht mehr hat verhindern können.
Sicher ist jedoch, daß er jedenfalls nach dem
Zusammenstoß erkannte, daß sich der Zeuge auf der
Fahrzeugfront befand, bei Fortsetzung der Fahrt überfahren
werden und dadurch auch tödliche Verletzungen davontragen
konnte. (...) Aus Angst vor einer polizeilichen Festnahme .... setzte
(er) die Fahrt mit unverminderter Beschleunigung fort. Hierbei nahm er
erhebliche Verletzungen des Zeugen Sch. in Kauf, er vertraute aber
darauf, daß der Zeuge das Überfahren
überleben werde. 1 bis 2 Sekunden nach dem
Zusammenstoß war der Zeuge Sch. so weit nach unten gerutscht,
daß sein rechtes Bein vom linken (fahrerseitigen) Vorderrad
erfaßt und dadurch .... auf die Fahrbahndecke gezogen wurde.
Sodann fuhr der Wagen mit dem linken Vorder- und dem linken Hinterrad
über die rechte Wade, quer über den Rumpf und
über das linke Schulterblatt und Schlüsselbein des
Zeugen."
Zwischenzeitlich war der Kraftfahrer T. mit einem Sattelschlepper der
Firma an dem Kleintransporter vorbei auf die Straße gefahren,
wo er dem Angeklagten den Weg abschnitt, indem er mit dem Lkw von
rechts gegen den Kleintransporter stieß, der dadurch zwischen
dem Lkw und zwei links geparkten Pkw eingekeilt wurde. Um sich aus
dieser Situation zu befreien, gab der Angeklagte "Vollgas", so
daß es ihm gelang, die Lücke zu
durchstoßen und zu flüchten. An einem der Pkw und
dem Lkw entstand ein Sachschaden in Höhe von zusammen
mindestens 20.000 DM.
III. Revision des Angeklagten
1. Die Verfahrensbeschwerden, mit denen eine Verletzung der
gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO)
geltend gemacht wird, sind unzulässig, da sie nicht der in
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO vorgeschriebenen Form
genügen.
Soweit der Beschwerdeführer die fehlende Inaugenscheinnahme
der vom Tatfahrzeug gefertigten Lichtbilder beanstandet,
hätten die betreffenden Lichtbilder in die
Revisionsbegründung aufgenommen werden müssen (BGH,
Urteil vom 28. November 2000 - 5 StR 299/00). Im übrigen fehlt
es hier ebenso wie bei der weiteren Aufklärungsrüge,
die die im Fall eines Abbremsens durch den Angeklagten drohenden
Verletzungsfolgen betrifft, an der konkreten Bezeichnung des
Ergebnisses, das von der unterbliebenen Beweiserhebung zu erwarten
gewesen wäre (Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44.
Aufl. § 244 Rdn. 81 m.N.). Mit den weiteren beiden
Aufklärungsrügen wendet sich die Revision im Ergebnis
ausschließlich gegen die Beweiswürdigung; sie sind
deshalb nur im Rahmen der Sachrüge zu beachten.
2. Die Überprüfung des Urteils auf Grund der
Sachbeschwerde hat keinen durchgreifenden Rechtsfehler zum Nachteil des
Angeklagten ergeben.
Die gegen die Beweiswürdigung gerichteten Angriffe der
Revision sind unbegründet. Die Annahme des -
sachverständig beratenen - Landgerichts, der Angeklagte habe
den Geschädigten nach dem Anstoß, durch den er ihn
auf dem Fahrzeug mitnahm, wahrgenommen, beruht auf einer ausreichenden
Tatsachengrundlage.
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch ein Handeln mit (bedingtem)
Körperverletzungsvorsatz durch den Angeklagten bejaht.
Daß dem Angeklagten - wovon zu seinen Gunsten auszugehen ist
- nur eine Sekunde für die Entscheidung verblieb, durch
Abbremsen einer Verletzungsgefahr für den
Geschädigten zu begegnen oder unter Inkaufnahme dieser Gefahr
weiterzufahren, stellt den Vorsatz nicht in Frage. Der Kleintransporter
fuhr - wie das Landgericht feststellt - beim Zusammenstoß mit
dem Geschädigten nur "wenige Stundenkilometer", "so
daß es ohne weiteres möglich gewesen wäre,
das Fahrzeug durch Betätigung der Fußbremse sofort
anzuhalten". Davon ausgehend stellt es einen möglichen - und
deshalb vom Revisionsgericht hinzunehmenden - Schluß dar,
wenn sich das Landgericht unter Berücksichtigung insbesondere
der Motivlage des Angeklagten die Überzeugung verschafft hat,
daß er sich "bewußt für die Fortsetzung
der Flucht und - damit verbunden - für die Gefahr eines
Überrollens des Zeugen Sch. entschieden hat". Ein
Erfahrungssatz, daß - wie die Revision mit Blick auf den
Begriff der "Schrecksekunde" meint - innerhalb einer Sekunde ein
solcher Verletzungsvorsatz nicht gefaßt werden kann, besteht
nicht; vielmehr ist in der Rechtsprechung anerkannt, daß
Reaktionszeiten von unter einer Sekunde in Betracht kommen (vgl. die
Nachweise bei Hentschel Straßenverkehrsrecht 36. Aufl. StVO
§ 1 Rdn. 29 und 30). Die Würdigung durch das
Schwurgericht steht schließlich auch nicht im Widerspruch zur
Verneinung eines (bedingten) Tötungsvorsatzes (dazu unten IV
auf die Revision der Staatsanwaltschaft).
Auch die Verurteilung des Angeklagten wegen unerlaubten Entfernens vom
Unfallort und die Rechtsfolgenentscheidung sind frei von Rechtsfehlern
zum Nachteil des Angeklagten. Insoweit erhebt die Revision auch keine
ausdrücklichen Einwendungen.
IV. Revision der Staatsanwaltschaft
Die Begründung, mit der das Landgericht zwar einen
Verletzungsvorsatz beim Angeklagten bejaht, einen (bedingten)
Tötungsvorsatz aber verneint hat, hält im Ergebnis
ebenfalls rechtlicher Nachprüfung stand.
Zwar liegt es bei besonders gefährlichen Verhaltensweisen, wie
es das Mitschleifen eines Menschen an einem beschleunigenden
Kraftfahrzeug darstellt, nahe, daß der Täter auch
mit der Möglichkeit rechnet, das Opfer könne dabei zu
Tode kommen. Das hat das Landgericht auch angenommen. Der bedingte
Tötungsvorsatz setzt jedoch weiter voraus, daß der
Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges, den er als
möglich und nicht ganz fernliegend erkennt, auch billigt (st.
Rspr.; BGH NStZ 1981, 22 f; 1984, 19 m.w.N.). Deshalb bedarf der
Schluß von der Gefährlichkeit der Tathandlung auf
einen bedingten Tötungsvorsatz im Hinblick auf die
gegenüber der Tötung eines anderen Menschen
bestehende hohe Hemmschwelle einer eingehenden Prüfung anhand
aller Umstände des Einzelfalles (st. Rspr.; BGHR StGB
§ 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter, 1, 2, 3, 5, 12, 13). Diesen
Anforderungen wird das angefochtene Urteil noch gerecht.
Die Beschwerdeführerin weist allerdings zu Recht darauf hin,
daß sich der vorliegende Fall wesentlich von jenen
Sachverhalten unterscheidet, in denen der Täter zwar mit einem
Kraftfahrzeug auf eine Person zufährt, aber - wie namentlich
in den Fällen der Polizeiflucht - darauf vertraut, der andere
werde unter dem Eindruck des sich nähernden Fahrzeugs noch
rechtzeitig die Fahrspur freigeben (vgl. BGH StV 1992, 420; BGHR StGB
§ 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 28 und 43). Bei der hier
gegebenen Situation, bei der der Angeklagte den Geschädigten
nach dem Anstoß mit dem Fahrzeug mitschleifte, konnte sich
jener kaum ohne Schaden außer Gefahr bringen. Dies vermag
zwar den von dem Schwurgericht zutreffend bejahten
Körperverletzungsvorsatz zu begründen, belegt
für sich jedoch noch nicht auch einen bedingten
Tötungsvorsatz (vgl. Senatsurteil vom 21. Januar 1993 - 4 StR
624/92). Daß der Angeklagte die Lebensgefährlichkeit
der Verletzungshandlung erkannt, sich dennoch aber nicht
bewußt mit dem Tod des Geschädigten abgefunden hat,
entspricht der Unterscheidung des Gesetzes zwischen
vorsätzlicher Tötungshandlung und
vorsätzlicher Körperverletzung "mittels einer das
Leben gefährdenden Behandlung" (§ 224 Abs. 1 Nr. 5
StGB; vgl. BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 10, 41)
und läßt deshalb in bezug auf einen
möglichen Tötungserfolg nur den Vorwurf der
(bewußten) Fahrlässigkeit zu (std. Rspr.; BGH NJW
1999, 2533, 2534). Davon ist das Landgericht hier im Ergebnis ohne
einen den Angeklagten begünstigenden Rechtsfehler ausgegangen.
Was die Beschwerdeführerin dagegen einwendet,
erschöpft sich letztlich in dem im Revisionsverfahren
unbeachtlichen Versuch, die dem Tatrichter vorbehaltene
Würdigung der zur inneren Tatseite getroffenen Feststellungen
durch eine eigene zu ersetzen. Dabei verfehlt die
Beschwerdeführerin schon insoweit den revisionsrechtlich
zutreffenden Ansatz, als sie davon ausgeht, daß der
Angeklagte "vorsätzlich auf den Zeugen zugefahren ist" (RB S.
4); denn hiermit wendet sie sich gegen die vom Landgericht getroffenen
Feststellungen, das sich gerade nicht die Überzeugung zu
verschaffen vermocht hat, "daß der Angeklagte den Zeugen Sch.
so rechtzeitig bemerkt hat, daß er den Zusammenstoß
noch durch Abbremsen oder Ausweichen hätte verhindern
können". Die nach den Umständen mögliche und
deshalb rechtsfehlerfrei gezogene Schlußfolgerung, dem
Angeklagten sei ein gezieltes Zufahren auf den Geschädigten
nicht nachzuweisen, bindet das Revisionsgericht (Kuckein in KK-StPO 4.
Aufl. § 337 Rdn. 3 m.N.). Hiernach verblieb dem Angeklagten
nach dem Anstoß bis zum Überrollen des
Geschädigten nach dem Zweifelsgrundsatz nur eine Sekunde
für die Entschließung, entweder anzuhalten oder
unter Inkaufnahme der für den Geschädigten
bestehenden Gefahr die Fahrt zur Flucht fortzusetzen. Wenn sich das
Landgericht angesichts dieser Kürze und Schnelligkeit des
Geschehensablaufs, der Spontaneität des Tatentschlusses und
des auf Flucht und - wie es ausdrücklich erörtert -
nicht auf "Einsatz von körperlicher Gewalt" ausgerichteten
Bestrebens des Angeklagten nicht mit der für eine Verurteilung
ausreichenden Sicherheit davon überzeugen konnte,
daß der Angeklagte "auch die erhöhte Hemmschwelle,
welche vor der Billigung eines tödlichen Ausgangs liegt,
überwunden hat", so ist dies von Rechts wegen nicht zu
beanstanden (vgl. Senatsurteil vom 30. Mai 2000 - 4 StR 90/00, StraFo
2000, 417).
Die Verneinung eines bedingten Tötungsvorsatzes durch das
Schwurgericht steht auch nicht in unauflösbarem Widerspruch zu
Erwägungen im Rahmen der Strafzumessung. Zwar lastet das
Landgericht dem Angeklagten straferschwerend an, es sei "einzig dem
Zufall zu verdanken", daß der Unfall nicht tödlich
ausgegangen sei. Damit umschreibt das Urteil aber - wie der
Zusammenhang erkennen läßt - nur die objektive
"besondere Gefährlichkeit der Tat-
handlung". Dies belegt aber - wie ausgeführt - nicht schon
für sich das voluntative Element des (bedingten)
Tötungsvorsatzes.
Meyer-Goßner Maatz Kuckein
Athing Ernemann |