BGH,
Urt. v. 9.4.2003 - 2 StR 421/02
2 StR 421/02
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
vom
9. April 2003
in der Strafsache gegen
wegen Vergewaltigung u. a.
Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofes hat in der Sitzung vom 9.
April 2003, an der teilgenommen haben: Vorsitzende Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Rissing-van Saan und die Richterin am
Bundesgerichtshof Dr. Otten, Richter am Bundesgerichtshof
Rothfuß, Prof. Dr. Fischer, die Richterin am
Bundesgerichtshof Roggenbuck, Bundesanwalt als Vertreter der
Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt in der Verhandlung als Verteidiger,
Justizhauptsekretärin als Urkundsbeamtin der
Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
1. Die Revision des Angeklagten wird verworfen. Der
Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels und die
der Nebenklägerin dadurch erwachsenen notwendigen Auslagen zu
tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des
Landgerichts Aachen vom 19. Juni 2002 im Strafausspruch mit den
zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache in diesem
Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die
Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geiselnahme in Tateinheit mit
Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Dagegen wenden sich die Revision des Angeklagten und die - vom
Generalbundesanwalt (in der Hauptverhandlung) vertretene - Revision der
Staatsanwaltschaft, die der Sache nach auf den Strafausspruch
beschränkt ist.
I.
Das Landgericht hat folgendes festgestellt:
Der zur Tatzeit vierundvierzigjährige, nicht vorbestrafte, bei
Tatbegehung möglicherweise vermindert schuldfähige
Angeklagte versah sich am Tatabend mit einer Spielzeugpistole seines
Sohnes. Er hatte vor "entweder jemanden vor die Schnauze zu hauen, eine
Bank zu überfallen oder jemandem sein Auto wegzunehmen". Er
stürmte kurz vor 18.00 Uhr bei völliger Dunkelheit
aus dem Haus und bemerkte nach wenigen Minuten das Tatopfer, die Zeugin
O. Diese hatte vor, mit ihrem Auto von ihrer Arbeitsstelle nach Hause
zu fahren. Der Angeklagte bedrohte sie mit der Spielzeugpistole, die
sie für eine echte Waffe hielt, und zwang sie, sich so auf den
Beifahrersitz ihres Fahrzeugs zu legen, daß sie mit dem
Oberkörper und den Armen im Fußraum und mit den
Beinen auf dem Beifahrersitz lag. Er setzte sich ans Steuer und fuhr
ohne konkretes Ziel davon. Die Zeugin nahm er mit, weil er verhindern
wollte, daß sie sofort die Polizei informiert. Schon kurz
nach Fahrtantritt faßte er jedoch den Entschluß,
die Zeugin, die ihm schutzlos ausgeliefert war, zu vergewaltigen. Als
sie während der Fahrt mehrfach versuchte, den Kopf zu heben,
schlug er sie auf den Kopf und drohte ihr, sie zu erschießen.
Er bog schließlich in einen Feldweg ein, hielt an und
forderte die Zeugin auf, auszusteigen. Dies tat sie, weil sie aufgrund
der zuvor ausgestoßenen Drohungen, wie der Angeklagte
erkannte, große Angst hatte. Er fesselte die Arme der Zeugin,
zog ihr seine Mütze über den Kopf, so daß
Augen und Nase bedeckt waren, und umwickelte sie mit Klebeband. Die
Zeugin mußte sodann den Oralverkehr an dem Angeklagten
ausüben. Anschließend vollzog der Angeklagte mit der
Zeugin, die er gewaltsam entkleidet hatte, den ungeschützten
Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguß. Die Zeugin
ließ dies aus Angst ohne Gegenwehr über sich
ergehen. Anschließend mußte sie sich in den
Kofferraum legen. Der Angeklagte fuhr in die Nähe des
Ausgangsortes zurück und ließ das Fahrzeug
verschlossen auf einem Feldweg stehen. Den Schlüssel warf er
weg. Die Zeugin wurde einige Zeit später von der Polizei
gefunden. Als die Polizei im Rahmen der Ermittlungen zur Abgabe
freiwilliger Speichelproben aufforderte, stellte sich der Angeklagte
und legte ein umfassendes Geständnis ab. Die Zeugin hatte zum
Zeitpunkt der Hauptverhandlung - 5 1/2 Monate nach der Tat - das
Geschehen nicht verarbeitet, sie war seit dem Tattag nicht
fähig, ihren Beruf auszuüben und befand sich in
psychiatrischer Behandlung. Der Angeklagte hat angeboten, der
Geschädigten Schadensersatz und Schmerzensgeld in
Höhe von insgesamt 17.500 Euro durch Abtretung seiner vom
Arbeitgeber zu zahlenden Abfindung zu leisten. Zur Einigung war es bis
zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung nicht gekommen, der Angeklagte hatte
aber bereits 5.000 Euro an die Nebenklagevertreterin
überwiesen.
II.
1. Die auf die Sachrüge gestützte Revision des
Angeklagten hat keinen Erfolg:
a) Das Landgericht hat das Tatgeschehen rechtsfehlerfrei als
Geiselnahme gemäß § 239 b Abs. 1 2. Alt.
StGB in Tateinheit mit Vergewaltigung gemäß
§ 177 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 2 StGB
gewürdigt. Entgegen der Ansicht der Revision begegnet die
Annahme einer Geiselnahme keinen Bedenken. Der Angeklagte hatte die
Zeugin entführt und sich ihrer bemächtigt, als er sie
zwang, in das Fahrzeug zu steigen und mitzufahren. Er hatte damit eine
Zwangslage für die Zeugin geschaffen, die sie seinem
ungehemmten Einfluß aussetzte und die er in der Folge nutzte,
um sie mit jedenfalls konkludenten Todesdrohungen zur
anschließenden Duldung der Fesselung und zu den sexuellen
Handlungen zu nötigen. Während der Fahrt hatte er der
Zeugin mehrfach mit Erschießen gedroht. Aufgrund dieser
Drohungen folgte sie, als der Angeklagte auf dem Feldweg hielt, seinen
Weisungen und leistete keine Gegenwehr. Dies hat der Angeklagte, wie
das Landgericht ausdrücklich festgestellt hat, auch erkannt.
Unter diesen Umständen fehlt es weder an einer qualifizierten
Drohung zur Erzwingung bzw. Duldung der sexuellen Handlungen noch an
einer stabilisierten Zwischenlage. Der Angeklagte hat die Zeugin nicht
im unmittelbaren Zusammenhang mit ihrer Bemächtigung mit
vorgehaltener Waffe zu einer sexuellen Handlung genötigt,
sondern hatte sie jedenfalls einige Zeit in seine Gewalt gebracht, um
diese Lage zu weiteren Nötigungen auszunutzen, wobei die
Todesdrohungen fortwirkten.
b) Ein Rechtsfehler ist auch nicht darin zu sehen, daß die
Strafkammer eine Strafrahmenmilderung nach § 46 a Nr. 1 StGB
nicht erörtert hat. Abgesehen davon, daß eine
Vereinbarung über eine Schadensersatz- und
Schmerzensgeldzahlung zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung noch nicht
getroffen worden war, auch wenn der Angeklagte bereits 5.000 Euro
gezahlt hatte, ist ein nach dieser Vorschrift vorausgesetzter
kommunikativer Prozeß zwischen dem Angeklagten und der Zeugin
O., die dem Angeklagten nach den Urteilsfeststellungen mit tiefem
Haß begegnet, ersichtlich nicht zustande gekommen. Die
Wiedergutmachungsbemühungen des Angeklagten sind aber nach
§ 46 StGB strafmildernd berücksichtigt worden.
2. Die Revision der Staatsanwaltschaft, die sich dagegen wendet,
daß die Kammer von verminderter Schuldfähigkeit des
Angeklagten ausgegangen ist, ist begründet.
Nach den Feststellungen litt der Angeklagte, der seit über 20
Jahren als Busfahrer tätig war, aufgrund der von ihm als sehr
belastend empfundenen Arbeitsbedingungen unter streßbedingten
psychischen Beeinträchtigungen. Ihm wurden mehrfach, darunter
auch psychosomatische Kuren verordnet, die aber zu keiner Besserung
führten. Zeitweise befand er sich in psychiatrischer
Behandlung. In den letzten Monaten vor der Tat wurde der Angeklagte,
der sich den beruflichen Anforderungen nicht mehr gewachsen
fühlte, bei seinen Fahrten des öfteren von seiner
Ehefrau oder seinem Sohn begleitet. Am Tattag hatte der Angeklagte, der
bis ca. 16.00 Uhr gearbeitet hatte, in mehreren Fällen
Ärger mit den Fahrgästen, was ihn aufs
äußerste erregt hatte. Bevor er zum Lauftraining
sein Haus verließ, nahm er nach seiner unwiderlegten
Einlassung eine Tablette Speed ein und sprühte ein
Asthma-Spray. Er fühlte sich von Unruhe getrieben und
bemerkte, daß sein Puls raste.
Das Landgericht hat eine vorübergehende krankhafte seelische
Störung nicht ausgeschlossen und sich dabei ersichtlich auf
die Feststellungen der Sachverständigen zur
Persönlichkeit und Tatsituation gestützt. Danach ist
die Persönlichkeit des Angeklagten durch eine hohe
Selbstunsicherheit und Sensibilität gegenüber
Belastungs- und Frustrationssituationen gekennzeichnet. Er sei nicht in
der Lage, eine destabile Situation von sich aus zu verbessern. In einer
solchen destabilen Situation habe er sich aufgrund zunehmender
beruflicher Existenzängste und von Kränkungen und
Enttäuschungen am Arbeitsplatz subjektiv befunden und dieser
hilflos gegenübergestanden. Die körperlichen Symptome
vor der Tat könnten Ausdruck einer bereits länger
andauernden
akuten Belastungsreaktion sein. Während die
Sachverständige aber eine affektiv-aggressive Aufladung im
Sinne eines psychotischen Zustands aufgrund der schlüssigen
Schilderung der unmittelbaren Vorgeschichte der Tat, der
zielgerichteten Vorgehensweise in Verbindung mit der situativen
Anpassungsfähigkeit sowie des Fehlens von
Verhaltensauffälligkeiten des Angeklagten während der
Tat ausgeschlossen und eine Beeinträchtigung seiner
Fähigkeit zu einsichtsgemäßem Handeln
verneint hat, wobei die eingenommene Tablette Speed keine Rolle
gespielt habe, hat die Strafkammer entscheidend auf das nicht
feststellbare Motiv des Angeklagten für die Tatbegehung
abgestellt. Es sei denkbar, daß der Angeklagte "zwanghaft
einen Ausweg aus dieser beruflichen Streßsituation gesucht
und gefunden hat, ohne dabei rational vorzugehen, sondern getrieben und
beherrscht, von der Vorstellung handeln zu müssen, etwas getan
hat, was er in seiner Situation kaum verhindern oder stoppen konnte".
Diese Erwägungen begegnen durchgreifenden Bedenken. Die
Ausführungen des Landgerichts leiden schon daran,
daß die Einordnung des Zustands, der bei dem Angeklagten bei
Tatbegehung möglicherweise bestanden haben soll, als eine
vorübergehende krankhafte seelische Störung unklar
ist und eine nachprüfbare Darlegung anhand der für
die Eingangsmerkmale der §§ 20, 21 StGB entwickelten
Kriterien vermissen läßt. Soweit dem
Urteilszusammenhang entnommen werden kann, daß das
Landgericht von einer akuten Belastungssituation mit
affektiv-aggressiver Aufladung ausgegangen ist, ist zudem eher an eine
nicht krankhafte seelische Störung im Sinne einer
tiefgreifenden Bewußtseinsstörung (Affekt) zu denken
(vgl. Foerster/Venzlaff, Die "tiefgreifende
Bewußtseinsstörung" in Psychiatrische Begutachtung,
2. Aufl., S. 245 f., 246). Schon deshalb kann der Senat nicht
prüfen, ob das Landgericht die zutreffenden rechtlichen
Maßstäbe angelegt hat. Schon vom Ansatz her verfehlt
ist es zudem, daß das Landgericht in diesem Zusammenhang
entscheidend auf das nicht feststellbare Tatmotiv abstellt und mangels
eines feststellbaren Motivs zugunsten des Angeklagten von einer
zwanghaften, von ihm kaum zu verhindernden Entladung aus einer
beruflichen Streßsituation ausgeht. Für die Annahme
einer Affekttat sind von der Rechtsprechung und Psychiatrie Merkmale
herausgearbeitet worden, die zwar im Einzelfall unterschiedlich zu
gewichten sind und nicht alle jeweils vorliegen müssen (vgl.
im einzelnen Jähnke in LK 11. Aufl. § 20 Rdn. 57),
mit denen sich das Urteil aber im Rahmen einer - hier nicht
vorliegenden - Gesamtwürdigung auseinandersetzen muß
(Tröndle/Fischer, StGB, 51 Aufl. § 20 Rdn. 33).
Der Strafausspruch kann danach keinen Bestand haben. Der Senat kann
nicht ausschließen, daß der Strafausspruch auf
diesem Rechtsfehler beruht, auch wenn das Landgericht die an sich nicht
schuldunangemessene Freiheitsstrafe von sechs Jahren auch bei Anwendung
des Normalstrafrahmens hätte verhängen
können.
Rissing-van Saan Otten RiBGH Rothfuß ist wegen Urlaubs an der
Unterschrift gehindert
Rissing-van Saan Fischer Roggenbuck |