BGH,
Urt. v. 9.7.2003 - 2 StR 106/03
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
2 StR 106/03
vom
9.7.2003
in der Strafsache
gegen
wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes
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Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom
9.7.2003,
an der teilgenommen haben:
Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof
Dr. Rissing-van Saan
und die Richter am Bundesgerichtshof
Dr. h.c. Detter,
Dr. Bode,
die Richterinnen am Bundesgerichtshof
Dr. Otten,
Roggenbuck,
Bundesanwalt
als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellte
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
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Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts
Marburg vom 6. November 2002
a) im Schuldspruch dahin geändert, daß die
Verurteilung wegen
des tateinheitlich begangenen sexuellen Mißbrauchs einer
Schutzbefohlenen und wegen Beischlafs zwischen Verwandten
entfällt,
b) im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen
aufgehoben
und die Sache in diesem Umfang zu erneuter Verhandlung
und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels,
an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen
Mißbrauchs eines
Kindes in acht Fällen, davon in fünf Fällen
in einem besonders schweren
Fall und in diesen fünf Fällen jeweils in Tateinheit
mit Beischlaf mit einem leiblichen
Kind und in allen Fällen in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch einer
Schutzbefohlenen zu einer zur Bewährung ausgesetzten
Gesamtfreiheitsstrafe
von zwei Jahren verurteilt; in einem Fall hat es das Verfahren wegen
Verjährung
eingestellt. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer vom
Generalbundes-
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anwalt vertretenen, auf den Strafausspruch beschränkten
Revision eine höhere
Strafe.
Nach den Feststellungen ist der Angeklagte bei seiner im Februar 1978
geborenen Tochter erstmals (in verjährter Zeit) im Jahre 1983
oder 1984 mit
dem Finger in die Scheide eingedrungen. Im Zeitraum 1985 bis 1987 kam es
zu drei gleichen Handlungen (Fälle 2 bis 4). 1987 hat der
Angeklagte mit seiner
neunjährigen Tochter in Gegenwart anderer Zechgenossen
erstmals den Geschlechtsverkehr
ausgeübt und sie dabei defloriert, einer der anderen
Männer
hat ebenfalls sexuelle Handlungen an dem Kind vorgenommen (Fall 5). In
der
Folge kam es bis 1991 in vier weiteren Fällen zur
Ausführung des Geschlechtsverkehrs
mit dem Kind (Fälle 6 bis 9). Der Angeklagte, der seit 1981
zunehmend dem Alkohol zugesprochen und sich spätestens seit
1985 zu einem
Spiegeltrinker mit einem täglichen Konsum von ein bis zwei
Flaschen
Schnaps entwickelt hatte, unterzog sich noch vor dem 14. Geburtstag der
Geschädigten
einer Entziehungskur, die er erfolgreich durchstand. Danach kam
es zu keinen weiteren Übergriffen. Das Familienleben
entwickelte sich äußerlich
normal, das Tatgeschehen wurde jedoch totgeschwiegen. Die
Geschädigte
unternahm mit 14 und mit 17 Jahren einen Selbstmordversuch und leidet
seit
zehn Jahren unter einer schweren posttraumatischen Belastungs- und
Borderline-
Störung, die mehrfache stationäre Aufenthalte in
psychiatrischen Kliniken
und ambulante Therapien erforderte und zum Abbruch einer von ihr
angestrebten
Berufsausbildung führte. Sie wurde im Ermittlungsverfahren
richterlich
vernommen, eine Sachverständigenbegutachtung mußte
wegen des schlechten
psychischen Zustands der Geschädigten abgebrochen werden. Eine
Vernehmung
in der Hauptverhandlung war nicht möglich, da bereits ihre
bisherigen
Aussagen im Verfahren zu einer erheblichen psychischen Belastung der
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Geschädigten geführt hatten und bei einer erneuten
Vernehmung mit einer
weiteren Verschlechterung, auch mit erneuten suizidalen Handlungen zu
rechnen
war. Ihre Aussage wurde durch Verlesung des richterlichen Protokolls in
die Hauptverhandlung eingeführt.
Das Landgericht ist aufgrund der zur Tatzeit bestehenden
Alkoholkrankheit
des Angeklagten in allen Fällen von einer erheblich
verminderten Schuldfähigkeit
ausgegangen und hat gegen den geständigen Angeklagten unter
Anwendung
des nach § 49 Abs. 1, 21 StGB gemilderten Strafrahmens wegen
sexuellen
Mißbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem
Mißbrauch einer
Schutzbefohlenen (§ 176 Abs. 1 StGB aF, § 174 Abs. 1
StGB) in den Fällen 2
bis 4 jeweils Einzelstrafen von sechs Monaten und wegen sexuellen
Mißbrauchs
eines Kindes in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer
Schutzbefohlenen
und Beischlaf mit einem leiblichen Kind (§ 176 Abs. 3 Nr. 1
StGB aF;
§§ 174 Abs. 1, 173 Abs. 1 StGB) im Fall 5 eine
Einzelstrafe von einem Jahr
und sechs Monaten und in den Fällen 6 bis 9 jeweils
Freiheitsstrafen von acht
Monaten verhängt.
Das Rechtsmittel führt - nach § 301 StPO insoweit zu
Gunsten des Angeklagten
- in allen Fällen zum Wegfall des neben dem sexuellen
Mißbrauch
eines Kindes tateinheitlich verwirklichten Delikts des sexuellen
Mißbrauchs von
Schutzbefohlenen und in den Fällen 5 bis 9 des weiteren
tateinheitlich verwirklichten
Deliktes des Beischlafs mit einem leiblichen Kind, da der Verfolgung
insoweit das Verfahrenshindernis der Verjährung entgegensteht.
Der letzte Geschlechtsverkehr
mit der Geschädigten hatte 1991 stattgefunden,
Verjährung
war danach für das Delikt des § 174 StGB Ende 1996,
für das Delikt des § 173
StGB Ende 1994 eingetreten. Zur Unterbrechung der Verjährung
geeignete
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Handlungen sind erst im Jahre 2001 erfolgt. Verfahrenshindernisse sind
von
Amts wegen zu beachten, auch wenn bereits durch die
Beschränkung des
Rechtsmittels Teilrechtskraft eingetreten ist (BGHSt 11, 393, 395; 15,
203, 208,
BGH NStZ 1994, 388, 389).
Der Strafausspruch hat keinen Bestand.
Bedenken begegnet schon die Anwendung des bei allen Taten nach
§§ 49 Abs. 1, 21 StGB gemilderten Strafrahmens. Zur
Begründung der verminderten
Schuldfähigkeit hat das Landgericht lediglich
ausgeführt, daß der Angeklagte
"aufgrund der jeweils getrunkenen Mengen und aufgrund des damit
einhergehenden
üblichen Abbaus der Fähigkeiten, sich in andere
Personen hineinzuversetzen,
das eigene Tun wirklichkeitsgerecht einzuschätzen und sich
nach moralischen Maßstäben zu verhalten", in seiner
Fähigkeit, das Unrecht
seines Handelns einzusehen und sich nach dieser Einsicht zu richten,
erheblich
eingeschränkt war. Abgesehen davon, daß die
Anwendung des § 21 StGB
nicht auf beide Alternativen - Einsichts- und
Steuerungsfähigkeit - zugleich gestützt
werden kann (vgl. BGH NStZ 1995, 226), bleibt auch unklar, ob die
Strafkammer
die verminderte Schuldfähigkeit auf die jeweilige
Alkoholisierung bei
den einzelnen Taten oder auf ein durch die Alkoholsucht verursachtes
Psychosyndrom
oder auf ein Zusammenwirken beider Faktoren stützen will.
Jedenfalls
fehlen hinreichend konkrete Feststellungen zu einem - nicht
fernliegenden -
alkoholbedingten Persönlichkeitsabbau.
Aber auch innerhalb des gewählten Strafrahmens sind die
Strafzumessungserwägungen
zu beanstanden. Bei den ausgeworfenen Einzelstrafen hat
die Strafkammer das Gewicht der Straftaten nicht angemessen
berücksichtigt.
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Dies ergibt sich schon daraus, daß sie die Taten in den
Fällen 2 bis 4 (Eindringen
mit dem Finger in die Scheide des Kindes) als "Handlungen am unteren
Rand der denkbaren sexuellen Handlungen" würdigt. Diese
Wertung ist fehlerhaft.
Auch wenn diese Handlungen nach dem zur Tatzeit geltenden Recht nicht
den Regelfall eines besonders schweren Falls begründeten,
handelte es sich
um gravierende sexuelle Übergriffe, die nicht vergleichbar
sind mit etwa einem
Streicheln des Geschlechtsteils über der Kleidung.
Dementsprechend hat der
Gesetzgeber Handlungen dieser Art durch das 6. StrRG nach §
176 a Abs. 1
Ziff. 1 StGB als schweren sexuellen Mißbrauch eines Kindes
qualifiziert. Zu
Recht weist die Revision zudem daraufhin, daß auch die
bagatellisierende Zumessungserwägung
der Kammer, die Handlungen hätten dem Kind nicht
körperlich
weh getan, im Widerspruch zu den Feststellungen steht.
Aber auch die für die Beischlafshandlungen ausgeworfenen
Einzelstrafen
für die Fälle 6 bis 9 von jeweils acht Monaten - nur
fünf Monate über der
Mindeststrafe nach dem gemilderten Strafrahmen - und von einem Jahr
sechs
Monaten für die Deflorierung des neunjährigen! Kindes
unter besonders erniedrigenden
und verletzenden Umständen werden dem Unrechtsgehalt der
Taten nicht gerecht. Entgegen der Auffassung der Kammer sind auch
etwaige
aus der Verdrängung und Verschweigung des Tatgeschehens in der
Familie
resultierende psychische Beeinträchtigungen dem Angeklagten in
vollem Umfang
zuzurechnen, weil auch sie ihren Grund in den Handlungen und dem
weiteren Verhalten des Angeklagten haben, der bis zur Hauptverhandlung
die
Taten bestritten hat.
Für die neue Verhandlung weist der Senat vorsorglich darauf
hin, daß er
zu der in der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom
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27. März 2003 - 3 StR 435/02 geäußerten
Rechtsauffassung ebenfalls neigt,
wonach bei einer auf verschuldeter Trunkenheit beruhenden erheblichen
Verminderung
der Schuldfähigkeit eine Strafrahmenverschiebung nach
§§ 21, 49
Abs. 1 StGB in der Regel nicht in Betracht kommen sollte. Ein solcher
Fall liegt
allerdings nicht vor, wenn der Täter alkoholkrank ist.
Rissing-van Saan Detter Bode
Otten Roggenbuck |