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Eine Darstellung der BGH-Rechtsprechung in Strafsachen



 
§ 62 StGB
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.
Strafgesetzbuch, Stand: 24.8.2017


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§ 62 StGB
    Allgemeines
       Vorrangige Erwägungen
    Bagatelldelikte
    Behandlungsbedürftigkeit
    Fehlerhafte Bewährungsentscheidung und Unterbringungsanordnung nach § 64 StGB
    Wiederholte Maßregelanordnung
    Geringer zu verbüßender Strafrest
Prozessuales
    Gesetze
       Verweisungen





§ 62 StGB




Allgemeines

5
Nach der Vorschrift des § 62 StGB darf die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen oder zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht. Die Norm nennt damit drei voneinander zu unterscheidende Kriterien, die als Bezugpunkte der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugrunde zu legen sind. Dabei darf die Zulässigkeit der Maßregel jedoch nicht nach ihrem Verhältnis zu jedem einzelnen der in § 62 StGB bezeichneten Elemente beurteilt werden. Vielmehr sind alle Merkmale insgesamt zu würdigen und zur Schwere des mit der Maßregel verbundenen Eingriffs ins Verhältnis zu setzen (BGHSt 24, 134, 135; BGH StV 1999, 489; BGH, Urt. v. 6.6.2001 - 2 StR 136/01 - BGHSt 47, 52 - NJW 2001, 3560; BGH, Beschl. v. 20.7.2010 - 4 StR 291/10).

Die Anordnung der Unterbringung wird grundsätzlich nicht durch die Möglichkeit minder einschneidender Maßnahmen außerhalb des Bereichs der strafrechtlichen Maßregeln gehindert. Bei den freiheitsentziehenden Maßregeln gilt das Subsidiaritätsprinzip nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs allein für die Frage der Vollstreckung (vgl. BGH, Urt. v. 11.12.2008 – 3 StR 469/08 - NStZ 2009, 260, 261; BGH, Urt. v. 12.4.2017 - 2 StR 454/16 Rn. 15
). Daher ist es für die Entscheidung über die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus unerheblich, ob die von dem Angeklagten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit durch eine konsequente medizinische Behandlung abgewendet werden könnte. Auch die Überwachung der Medikation oder die Bestellung eines Betreuers, eines Bewährungshelfers sowie die Erteilung von Bewährungsauflagen und Weisungen, die allein die Aussetzung der Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe betreffen, sind insoweit ohne Belang. Solche Maßnahmen erlangen erst für die Frage Bedeutung, ob die Vollziehung der Unterbringung gemäß § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt werden kann (BGH, Urt. v. 12.4.2017 - 2 StR 454/16 Rn. 15).




[ Vorrangige Erwägungen
]

5.5
Wird unter Verweis auf § 62 StGB von einer Anordnung der Maßregel (§ 64 StGB) abgesehen und im Rahmen der Bewährungsentscheidung dem Angeklagten als - gegenüber der Vollstreckung der Maßregel - mildere Möglichkeit die Weisung erteilt, sich einer Entziehungskur zu unterziehen und die diesbezüglichen Anstrengungen binnen vier Monaten nach Rechtskraft des Urteils dem Gericht unter Entbindung der behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht nachzuweisen, kann dies rechtsfehlerhaft sein, wenn die Möglichkeit einer Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung nach § 67b Abs. 1 Satz 1 StGB nicht geprüft wurde (vgl. BGH, Beschl. v. 20.7.2010 - 4 StR 291/10).
 
Hängt das Gewicht des mit der Unterbringungsanordnung einhergehenden Eingriffs maßgeblich von der Frage der Vollstreckung der Maßregel ab, ist vorrangig zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung nach § 
67b Abs. 1 StGB vorliegen (vgl. BGH, Beschl. v. 20.7.2010 - 4 StR 291/10).
 
  siehe hierzu auch:  § 67b StGB, Aussetzung zugleich mit der Anordnung, Rdn. 10 (Besondere Umstände)
 




Bagatelldelikte

10
Ist die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet worden und sind die dem Angeklagten angelasteten Taten dem absoluten Bagatellbereich zuzuordnen, ist die Verhältnismäßigkeit der Maßregel im Sinne des § 62 StGB nicht mehr gewahrt (vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.2008 - 4 StR 6/08 betr. mehrmaligen Hausfriedensbruchs als Anlasstaten; BGH, Beschl. v. 22.1.2009 - 4 StR 614/08 - wistra 2009, 231). Das könnte anders zu sehen sein, wenn der Angeklagte nur durch äußere, von ihm unabhängige Umstände an gravierenden Übergriffen gegenüber der Geschädigten oder ihrer Familie gehindert worden wäre (vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.2008 - 4 StR 6/08).

Da die Unterbringung nach § 
63 StGB ihrem Zweck nach auf die Verhinderung künftiger Taten abzielt, wird bei der vorzunehmenden Gesamtwürdigung regelmäßig der Bedeutung der in Zukunft zu erwartenden Rechtsverletzungen besonderes Gewicht zukommen. Die Anordnung der Maßregel kann deshalb auch dann zulässig sein, wenn die bisherigen Taten für sich betrachtet weniger gewichtig erscheinen, in Zukunft aber Taten von erheblicher Schwere zu erwarten sind (BGHSt 24, 134, 135; Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 62 Rdn. 2; Tröndle/Fischer StGB 50. Aufl. § 62 Rdn. 5). Daß die festgestellten Anlaßtaten die Erheblichkeitsschwelle nicht überschreiten, berührt somit weder das Vorliegen der Unterbringungsvoraussetzungen nach § 63 StGB (BGH NStZ 86, 237 und JR 1977, 169; Tröndle/Fischer aaO § 63 Rdn. 2 a; Stree aaO § 63 Rdn. 18), noch stellt es - für sich allein betrachtet - die Verhältnismäßigkeit der Unterbringung in Frage (vgl BGH, Urt. v. 6.6.2001 - 2 StR 136/01 - BGHSt 47, 52 - NJW 2001, 3560).

Das Ausmaß der möglichen Gefährdung der Allgemeinheit ist zu dem durch die bisherige Dauer der vorläufigen Unterbringung zunehmend gewichtiger werdenden Freiheitsgrundrecht des Angeklagten in Beziehung zu setzen (vgl. BVerfGE 70, 297, 312; BGH, Beschl. v. 20.2.2009 - 5 StR 555/08 - NStZ 2009, 383).


Dies kann sich etwa angesichts der Bedeutung der Anlasstaten aufdrängen, wenn die Fortdauer des bereits eingetretenen Freiheitsentzugs in Form einstweiliger Unterbringung, die gegen den Angeklagten verhängte Gesamtstrafe deutlich übersteigt und sich zukünftig nur noch verbunden mit einem therapeutisch konkret angestrebten Konzept mit dem Ziel der in absehbarer Zeit realisierbaren Aussetzung der weiteren Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung rechtfertigen läßt. Ist ein solches Ziel therapeutisch nicht realisierbar, wird das Gewicht der abgeurteilten Taten und das Ausmaß der absehbar zu belegenden Gefahr im Sinne des § 63 StGB eine weitere Unterbringung nurmehr für überaus begrenzte Zeit gestatten, nach deren Ablauf der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Nichtanordnung oder Erledigung der Maßregel zwingt (vgl. BGH, Beschl. v. 20.2.2009 - 5 StR 555/08 - NStZ 2009, 383).      




Behandlungsbedürftigkeit

15
Dass der Angeklagte einer jedenfalls mehrmonatigen stationären psychiatrischen Behandlung bedarf, ändert in Fällen der Unverhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung nichts, denn die strafrechtliche Unterbringung rechtfertigt sich nicht schon allein auf Grund des Bestehens einer fortdauernden psychischen Störung und deren Behandlungsbedürftigkeit (vgl. BGH, Beschl. v. 18.3.2008 - 4 StR 6/08; Fischer StGB 55. Aufl. § 63 Rdn. 2). 




Fehlerhafte Bewährungsentscheidung und Unterbringungsanordnung nach § 64 StGB

20
Ist nicht auszuschließen, dass bei rechtsfehlerfreier Prüfung des § 56 StGB die Strafe zur Bewährung ausgesetzt worden wäre, kann insoweit nicht auszuschließen sein, dass das Tatgericht den therapiewilligen und lediglich geringfügig vorbestraften Angeklagten nach § 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB angewiesen hätte, sich einer Entziehungskur zu unterziehen. In diesem Fall würde es für die Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB bereits an der Gefahr der künftigen Begehung erheblicher Straftaten oder aber an der Verhältnismäßigkeit im Sinne des § 62 StGB fehlen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.2009 - 2 StR 520/09 - StV 2010, 127).

 
siehe auch:  Strafaussetzung zur Bewährung, § 56 StGB - Rdn. 20.10 - Strafaussetzung und Maßregelanordnung nach § 64 StGB Unterbringung in einer Entziehungsanstalt, § 64 StGB




Wiederholte Maßregelanordnung

25
Beispiel: Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte während einer Beurlaubung aus seiner im Jahr 1998 angeordneten und seit dieser Zeit ununterbrochen bestehenden Unterbringung im psychiatrischen Krankenhaus seine damalige Lebensgefährtin gewürgt. Rechtsfehlerfrei gelangt das Landgericht zu dem Ergebnis, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine erneute Unterbringung nach § 63 StGB im Grundsatz vorliegen. Unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschl. v. 9.5.2006 - 3 StR 111/06 - NStZ-RR 2007, 8) sieht es die Maßnahme aber als unverhältnismäßig an (§ 62 StGB), weil nicht zu erwarten sei, dass von ihr (für den Angeklagten positive) Änderungen in der Ausgestaltung und Dauer des Maßregelvollzugs ausgingen, mithin Wirkungen, die der erste Maßregelausspruch nicht zeitige.


Hierzu hat der Bundesgerichtshof in BGH, Beschl. v. 23.11.2010 - 5 StR 466/10 klargestellt, dass die Rechtsprechung, auf die sich das Landgericht zur Begründung seiner Auffassung bezieht, schuldunfähige Personen betrifft (vgl. BGHSt 50, 199, 202; ausführlich auch: BGH, Beschl. v. 24.3.2015 - 1 StR 39/15; Schöch in LK 12. Aufl. § 63 Rdn. 152; missverständlich Fischer, StGB 57. Aufl. § 63 Rdn. 21). Wird hingegen gegen einen vermindert schuldfähigen Angeklagten eine Freiheitsstrafe verhängt, so ist der erneute Maßregelausspruch nach § 63 StGB geboten, um die Anrechenbarkeit der Zeit des Maßregelvollzugs auf die Strafe zu gewährleisten und so eine Benachteiligung des Angeklagten auszuschließen; die Anrechnung setzt voraus, dass Strafe und Maßregel in demselben Urteil festgesetzt werden (BGH, Beschl. v. 9.5.2006 - 3 StR 111/06; BGHSt 50, 199, 202; Schöch  in LK 12. Aufl. § 63 Rdn. 152).


Zur Verhältnismäßigkeit der nochmaligen Maßregelanordnung siehe  § 63 StGB, Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus - Rdn. 65 - Wiederholte Maßregelanordnung 




Geringer zu verbüßender Strafrest

35
Die Revision des Angeklagten kann zum Entfallen der Maßregelanordnung führen, wenn die Strafkammer bei der Beurteilung der Erfolgsaussicht der Maßregel (§ 64 Satz 2 StGB) von einem unzutreffenden Maßstab ausgegangen ist, etwa weil sie angenommen hat, die Entziehungsbehandlung habe „nicht ausschließbar“ Aussicht auf Erfolg (vgl. BGH, Beschl. v. 19.8.2009 – 2 StR 301/09), wobei von einer Zurückverweisung der Sache im Hinblick darauf abgesehen wird, dass sich der Angeklagte bereits seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindet und eine Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt in einem neuen tatgerichtlichen Verfahren angesichts des geringen zu verbüßenden Strafrestes jedenfalls unverhältnismäßig wäre (§ 62 StGB, vgl. BGH, Beschl. v. 23.10.2012 - 5 StR 481/12). Im Hinblick auf den verbleibenden Strafrest bleibt dann die Möglichkeit des § 35 BtMG zu prüfen (vgl. BGH, Beschl. v. 23.10.2012 - 5 StR 481/12). 



Prozessuales




Gesetze

Z.8




[ Verweisungen ]

Z.8.1
Auf § 62 StGB wird verwiesen in:

§ 69 StGB  siehe auch: 
Entziehung der Fahrerlaubnis, § 69 StGB
        

 

Strafgesetzbuch - Allgemeiner Teil - 3. Abschnitt (Rechtsfolgen der Tat) 6. Titel (Maßregeln der Besserung und Sicherung)
 




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