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Eine Darstellung der BGH-Rechtsprechung in Strafsachen



 
§ 16 StGB
Irrtum über Tatumstände

(1) Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich. Die Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung bleibt unberührt.

(2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.
 
Strafgesetzbuch, Stand: 24.8.2017


Überblick zur Darstellung
 § 16 Abs. 1 StGB
    Allgemeines
       Fehlvorstellungen und -bewertungen über normative Tatbestandsmerkmale
    Erlaubnistatbestandsirrtum, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analogsite sponsoring
    Einzelfälle
       Zueignungsabsicht
       Rechtswidrigkeit (Tatbestandsmerkmal)
       Vertrauen auf juristische Auskünfte
       Irrtum über ein Genehmigungserfordernis
       Wahnbedingter Irrtum
       Fortdauern einer Pflichtenstellung als Geschäftsführer
       Irrtum über das Alter des Tatopfers
       Irrtum des Arztes über die Zustimmung des Patienten zum ärztlichen Eingriff
 § 16 Abs. 2 StGB
    Irrtum über privilegierende Tatumstände
      Einzelfälle
          Tötung auf Verlangen




§ 16 Abs. 1 StGB




Allgemeines

5




[ Fehlvorstellungen und -bewertungen über normative Tatbestandsmerkmale ]
                  

5.1
Bei normativen Tatbestandsmerkmalen genügt die Kenntnis der die objektive Pflichtwidrigkeit des Handelns begründenden Umstände für die Begründung des Vorsatzes nicht. Der Täter muss zusätzlich die unter das normative Tatbestandsmerkmal zu subsumierenden Sachverhaltselemente in ihrem für die Unrechtsbegründung wesentlichen Bedeutungsgehalt erfasst haben (vgl. BGH, Urt. v. 9.11.2016 - 5 StR 313/15 Rn. 64; MüKo-StGB/Joecks, 2. Aufl., § 16 Rn. 69 ff.; LK-StGB/Vogel, 12. Aufl., § 16 Rn. 25 f.; KK-OWiG/Rengier, 4. Aufl., § 11 Rn. 15, 19).

Fehlvorstellungen oder -bewertungen über normative Tatbestandsmerkmale können je nach dem Stand der (Un-)Kenntnis des Täters zu einem den Vorsatz und damit die Strafbarkeit ausschließenden Tatbestandsirrtum (§§ 15, 16 StGB) oder zu einem vermeidbaren oder unvermeidbaren Verbotsirrtum17 StGB) führen, wobei die sachgerechte Einordnung derartiger Irrtümer unter Rückgriff auf wertende Kriterien und differenzierte Betrachtungen vorzunehmen ist (vgl. BGH, Urt. v. 21.12.2005 - 3 StR 470/04 - NStZ 2006, 214, 217; BGH, Urt. v. 3.4.2008 - 3 StR 394/07 - NStZ-RR 2009, 13).

Auch die Annahme eines möglichen Tatbestandsirrtums bedarf realer Anknüpfungspunkte (vgl. BGH, Urt. v. 6.3.2002 - 2 StR 533/01).

  siehe auch:  § 370 AO Rdn. 23.3  




Erlaubnistatbestandsirrtum, § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog

10
Bei irriger Annahme eines rechtfertigenden Sachverhalts entfällt der Vorsatz wegen eines Irrtums nach § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB analog (vgl. BGH, Urt. v. 10.2.2000 - 4 StR 558/99 - BGHSt 45, 378, 384 - StV 2001, 258), wobei dann eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Begehung in den Blick zu nehmen ist (vgl. BGH, Urt. v. 10.2.2000 - 4 StR 558/99 - BGHSt 45, 378, 384 - StV 2001, 258; BGH, Urt. v. 6.12.2007 - 5 StR 392/07).

Hat sich der Angeklagte über die Eignung seiner Handlung zur Abwendung der Rechtsgutverletzung geirrt, kommt ein Erlaubnistatbestandsirrtum und damit fahrlässige Tatbegehung in Betracht (vgl. § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urt. v. 10.2.2000 - 4 StR 558/99 - BGHSt 45, 378, 384 - StV 2001, 258; BGH, Urt. v. 12.2.2003 - 1 StR 403/02 - BGHSt 48, 207 - StV 2003, 557).

Hat der Angeklagte die "Kampflage" falsch beurteilt und Umstände angenommen, die im Falle ihres Vorliegens sein Handeln als notwendige Verteidigung erscheinen ließen, ist ein derartiger Irrtum ein Erlaubnistatbestandsirrtum und schließt den Vorwurf vorsätzlicher Tatbegehung aus (vgl. BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 5; BGH, Beschl. v. 21.6.2006 - 2 StR 109/06).

  
Hat sich der Angeklagte - etwa aufgrund seiner erheblichen Alkoholisierung - irrig eine Situation vorgestellt, in der er sich ungeachtet der von ihm ausgegangenen Provokation mit dem Messer verteidigen durfte, so kann ein die Verurteilung wegen vorsätzlicher Tat ausschließender Erlaubnistatbestandsirrtum gegeben sein. War er sich hingegen lediglich über die rechtlichen Grenzen des Notwehrrechts im Irrtum, hat also etwa geglaubt, dass er sich auch bei provozierten Schlägen und Tritten gegen den Angreifer und seinen Helfer ohne Einschränkungen mit dem Messer verteidigen darf, so ist die Anwendung von § 17 StGB in Erwägung zu ziehen (vgl. BGH, Beschl. v. 18.10.2001 - 3 StR 320/01 - NStZ-RR 2002, 73).

Wird ohne die Frage des Fortbestehens der Notwehrlage hinreichend zu beantworten davon ausgegangen, dass der Angeklagte sich "intensiver als erforderlich verteidigte", obwohl er "erkannte", dass das Opfer zum Zeitpunkt des Schlages "positions- und alkoholbedingt nicht mehr abwehrfähig" war, so liegt nahe, dass das Opfer auch nicht mehr angriffsfähig war und dass dies der Angeklagte ebenso erkannte wie die fehlende Abwehrfähigkeit. Wenn der Angeklagte erkannte, dass vom Opfer keine Gefahr mehr drohte, kann sich die Frage nach seinen Vorstellungen zur Intensität der Abwehr gegen den vom Opfer drohenden Angriff nicht stellen. Wenn der Angeklagte glaubte, auch gegenüber einem bereits abgeschlossenen Angriff noch Notwehrbefugnisse zu haben, ist ein solcher, auch als "Erlaubnisirrtum" oder "indirekter Verbotsirrtum" bezeichneter Irrtum nicht gemäß § 16 StGB, sondern - gemäß § 17 StGB zu behandeln (vgl. BGH, Urt. v. 15.7.2003 - 1 StR 187/03; Erb in MünchKomm StGB § 32 Rdn. 221; generell zur Irrtumsproblematik bei Notwehr ders. in MünchKomm StGB § 32 Rdn. Rdn. 219 ff. m.w.N.).


L E I T S A T Z    Ein Irrtum des Erpressers über die Unrechtmäßigkeit der von ihm erstrebten Bereicherung liegt nicht schon dann vor, wenn er sich nach den Anschauungen der einschlägig kriminellen Kreise als berechtigter Inhaber eines Anspruchs gegen das Opfer fühlt. Maßgeblich ist vielmehr, ob er sich vorstellt, daß dieser Anspruch auch von der Rechtsordnung anerkannt wird und er seine Forderung demgemäß mit gerichtlicher Hilfe in einem Zivilprozeß durchsetzen könnte (BGH, Urt. v. 7.8.2003 - 3 StR 137/03 - Ls. - BGHSt 48, 322 - NJW 2003, 3283). 




Einzelfälle

50




[ Zueignungsabsicht ]

50.1
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs befindet sich ein Täter, der irrtümlich annimmt, sich das weggenommene Geld zueignen zu dürfen, in einem den Vorsatz ausschließenden Tatbestandsirrtum (vgl. BGHR StGB § 249 Zueignungsabsicht 10; BGH, Urt. v. 12.1.1962 - 4 StR 346/61 - BGHSt 17, 87, 91 - NJW 1962, 971; BGH, Beschl. v. 19.5.1995 - 2 StR 197/95; BGH, Beschl. v. 15.5.2001 - 3 StR 153/01; BGH, Beschl. v. 18.7.2003 - 2 StR 239/03).

  siehe auch: § 242 StGB Rdn. 55
  




[ Rechtswidrigkeit (Tatbestandsmerkmal) ]

50.2
Die Rechtswidrigkeit des Vermögensvorteils ist Tatbestandsmerkmal des § 263 StGB. Hält der Täter den erstrebten Vermögensvorteil für rechtmäßig, liegt ein Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB vor. Wer mit Mitteln der Täuschung einen tatsächlich rechtswidrigen, nach seiner Vorstellung aber rechtmäßigen Anspruch durchsetzen will, begeht daher keinen Betrugsversuch (BGH, Urt. v. 17.10.1996 -  4 StR 389/96 - BGHSt 42, 268, 272 - NJW 1997, 750; BGH, Beschl. v. 30.8.1988 - 5 StR 325/88; BGH, Beschl. v. 9.7.2003 - 5 StR 65/02 - wistra 2003, 383).

 siehe auch: 
§ 263 StGB Rdn. 70.2 

Bei der Erpressung ist die Rechtswidrigkeit des erstrebten Vermögensvorteils ein normatives Tatbestandsmerkmal, auf das sich der - zumindest bedingte - Vorsatz des Täters erstrecken muß (vgl. BGH, Urt. v. 20.3.1953 - 2 StR 60/53 - BGHSt 4, 105 - NJW 1953, 834; BGH, Urt. v. 16.12.1997 - 1 StR 456/97 - NStZ-RR 1999, 6; BGH, Beschl. v. 17.6.1999 - 4 StR 12/99 - StV 2000, 79). Stellt sich deshalb der Täter für die erstrebte Bereicherung eine Anspruchsgrundlage vor, die in Wirklichkeit nicht besteht oder von der Rechtsordnung nicht geschützt ist, so handelt er in einem Tatbestandsirrtum im Sinne des § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB (vgl. BGH, Beschl. v. 17.6.1999 - 4 StR 12/99 - StV 2000, 79; BGH, Beschl. v. 21.2.2002 - 4 StR 578/01 - NStZ 2002, 481; vgl. auch BGH, Beschl. v. 9.4.2014 - 5 StR 65/14).

  siehe auch: § 253 StGB Rdn. 30§ 239a StGB Rdn. 25
   




[ Vertrauen auf juristische Auskünfte ]

50.3
Das Vertrauen des Täters in juristische Auskünfte kann sowohl im Rahmen des Tatbestandsvorsatzes Bedeutung erlangen als auch sich im Bereich der Schuld auf die Strafbarkeit auswirken (vgl. BGH, Urt. v. 3.4.2008 - 3 StR 394/07 - NStZ-RR 2009, 13; Kirch-Heim/Samson, wistra 2008, 81).

 siehe auch: § 17 StGB --> Rdn. 35.1 - Vertrauen auf Rechtsauskünfte
 




[ Irrtum über ein Genehmigungserfordernis ]

50.4
In Fällen des Irrtums über das Genehmigungserfordernis ist differenzierend nach dem jeweils in Betracht kommenden Tatbestand zu entscheiden (BGH, Urt. v. 22.7.1993 - 4 StR 322/93 - NStZ 1993, 594; BGHR StGB § 17 Unrechtsbewußtsein 2). Dabei kommt es darauf an, ob die Genehmigung nur der Kontrolle eines im allgemeinen sozialadäquaten Verhaltens dienen soll und die Tat ihren Unwert erst aus dem Fehlen der Genehmigung herleitet - Tatbestandsirrtum - oder ob es sich um ein grundsätzlich wertwidriges Verhalten handelt, das im Einzelfall aufgrund der Genehmigung erlaubt ist - Verbotsirrtum - (vgl. BGH, Urt. v. 22.7.1993 - 4 StR 322/93 - NStZ 1993, 594; BGH, Urt. v. 11.9.2002 - 1 StR 73/02 - wistra 2003, 65; BGH, Urt. v. 2.11.2010 - 1 StR 581/09 - NJW 2011, 1462; Cramer/Sternberg-Lieben in Schönke/Schröder, StGB, 26. Aufl., § 17 Rdn.12a).

 siehe auch: § 17 StGB Rdn. 5.3 - Irrtum über ein Genehmigungserfordernis; § 3 BtMG Rdn. 20 




[ Wahnbedingter Irrtum ]

50.5
Die irrige Annahme eines schuldunfähigen Beschuldigten, die bei einem geistig gesunden Täter einen Tatbestandsirrtum darstellen würde und z.B. die für eine Erpressung erforderliche Absicht rechtswidriger Bereicherung entfallen ließe (st. Rspr., vgl. BGH, Beschl. v. 21.2.2002 - 4 StR 578/01 - NStZ 2002, 481, 482 m.w.N.) ist unbeachtlich, wenn sie auf die zur Schuldunfähigkeit führende Erkrankung der Beschuldigten zurückgeht. Diese Bewertung eines wahnbedingten Irrtums entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. z.B. BGH, Urt. v. 11.11.1952 - 1 StR 510/52 - BGHSt 3, 287, 289; BGH, Urt. v. 9.7.1957 - 5 StR 199/57 - BGHSt 10, 355, 357; BGH b. Holtz MDR 1983, 90; BGH, Beschl. v. 29.5.1991 - 3 StR 148/91 - NStZ 1991, 528; BGH, Beschl. v. 10.9.2002 - 1 StR 337/02), die in Teilen des Schrifttums Zustimmung gefunden hat (vgl. z.B. Hanack in LK 11. Aufl. § 63 Rdn. 23f.; Stree in Schönke/Schröder StGB 26. Aufl. § 63 Rdn. 7; Fischer in KK 4. Aufl. § 413 Rdn. 11).

Den natürlichen Tatvorsatz berührt es nicht, wenn der Täter infolge seines Zustands Tatsachen verkennt, die jeder geistig Gesunde richtig erkannt hätte (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschl. v. 24.6.2008 - 3 StR 222/08; Fischer, StGB 55. Aufl. § 63 Rdn. 3 m. N.).

 siehe zum wahnbedingten Handeln in einem Erlaubnistatbestandsirrtum: BGH, Beschl. v. 27.10.2010 - 2 StR 505/10 - NStZ 2011, 336; siehe auch § 20 StGB Rdn. 45 - Krankheitbedingte Wahnvorstellungen




[ Fortdauern einer Pflichtenstellung als Geschäftsführer ]

50.6
  siehe hierzu: Handeln für einen anderen, § 14 StGB
 




[ Irrtum über das Alter des Tatopfers ]

50.7
  siehe hierzu: § 176 StGB Rdn. K.3.1;  § 182 StGB Rdn. K.1
 




[ Irrtum des Arztes über die Zustimmung des Patienten zum ärztlichen Eingriff
]

50.8
  siehe hierzu§ 228 StGB Rdn. 20.2 dort auch zum Nichterkennen der mit dem Eingriff verbundenen Lebensgefahr



§ 16 Abs. 2 StGB
 
... (2) Wer bei Begehung der Tat irrig Umstände annimmt, welche den Tatbestand eines milderen Gesetzes verwirklichen würden, kann wegen vorsätzlicher Begehung nur nach dem milderen Gesetz bestraft werden.




Irrtum über privilegierende Tatumstände

75




[ Einzelfälle
]

75.5




- Tötung auf Verlangen

75.5.10
Gemäß § 216 Abs. 1 StGB setzt die Privilegierung voraus, dass das Tötungsverlangen des Opfers, welches den Täter zur Tat bestimmt, ausdrücklich und ernsthaft ist (vgl. BGH, Urt. v. 7.10.2010 - 3 StR 168/10 - StV 2011, 284; BGH, Urt. v. 14.9.2011 - 2 StR 145/11; siehe hierzu ausführlich: § 216 StGB Rdn. 20.1).

Geht der Täter irrtümlich davon aus, dass der Getötete seine Tötung ernstlich verlangt habe, dann greift § 16 Abs. 2 StGB ein, so dass die Privilegierung gemäß § 216 StGB zur Anwendung kommen kann (vgl. BGH, Urt. v. 14.9.2011 - 2 StR 145/11; Eser in Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., § 216 Rn. 14; Fischer, StGB, 58. Aufl., § 216 Rn. 11).
 
Strafgesetzbuch - Allgemeiner Teil - 1. Abschnitt (Das Strafgesetz) 1. Titel (Geltungsbereich)
 
 




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